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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Christoph Köstlin

Bruce Liu

Das Leben in Wellen

Der Pianist spricht über sein Album „Waves“, ein Leben nach dem Chopin-Wettbewerb – und den wichtigsten Körperteil eines Klaviervirtuosen.

RONDO: Herr Liu, Ihr Name weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem des chinesischen Kung-Fu-Fighters Bruce Lee auf. Zufall?
Bruce Liu: Nein. Als ich 15 Jahre alt war und in einem Orchester spielte, wurde mir die Ähnlichkeit mit Bruce Lee auf den Kopf zugesagt. Ich kannte ihn gar nicht. Seine Filme hat er in den 60er und 70er Jahren gemacht. Ich wurde erst 1997 geboren. Da mein eigentlicher Name Liú Xiǎoyǔ ziemlich kompliziert ist, suchte ich ein Pseudonym. Eigentlich hätte mir Jackie Chan mehr zugesagt. Er ist komischer.

Was haben Sie mit beiden gemeinsam?
Jedenfalls nicht, dass ich ein Fighter wäre. Ich bin faul.

Haben Sie dafür nicht zu viele Wettbewerbe gewonnen?!
Wettbewerbe entsprechen mir eigentlich nicht. Aber wenn man halt damit angefangen hat, muss man es auch zu Ende führen. Dem Sieg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb verdanke ich wirklich viel. Er hat mein Leben verändert. Davor hatte ich schon an fünf oder sechs anderen teilgenommen. Trotzdem würde ich sagen: Wettbewerbe sind ein Lotteriespiel.

Was macht einen guten Chopin-Spieler aus?
Flexibilität. Und Freiheit. Chopin ist der am schwersten festzulegende Komponist. Entsprechend gibt es zwischen den großen Interpreten himmelweite Unterschiede: etwa zwischen Rubinstein, Cortot und Martha Argerich. Es gibt eine Anekdote, wonach Chopin als Klavierlehrer einem Schüler eine Stelle erklärte. Als dieser die Stelle beim nächsten Mal genau so spielte, antwortete Chopin: „Wer hat dir das beigebracht? Das ist ja furchtbar.“ – Chopin gibt Freiheit. Man muss sie zu nutzen verstehen.

Nicht für alle Gewinner bedeutete der Chopin-Wettbewerb Glück. Auch nicht für ihren Lehrer Đặng Thái Sơn. Ist Ihr neues Album „Waves“ ein Versuch, ein Stück weit wegzukommen von Chopin?
Ja und nein. Frédéric Chopin selbst hatte ein halb französisches Selbstverständnis. Meine Liebe zu ihm ist ungebrochen. Die französische Musik, die ich auf dem neuen Album spiele, ist mir aber genauso nah. Rameau betrachte ich als fast so etwas wie den Vater der Harmonie in der Musik. Der Weg zu Alkan und Ravel ergibt sich erstaunlich bruchlos.

Wie sind Sie auf die Werke von Charles Alkan gekommen?
Ich hatte ihn lange schon auf der Liste. Er hat viel geschrieben, die Werke strotzen nur so von Noten. Man muss ihn sehr gut spielen, um ihn richtig zur Geltung zu bringen. Eine ganze Platte würde ich nicht mit seinen Werken machen. Ich bevorzuge Abwechslung. Auch alle Nocturnes von Chopin würde ich nicht gern am Stück aufnehmen.

Sie sind ein sehr virtuoser Pianist. Was ist zu schwer für Sie?
Die einfachen Sachen. Virtuosität kann man üben, Simplizität nicht. Einiges ist mir sogar zu brillant. Für die „Chopin-Studien“ von Godowsky etwa, die wohl nur Marc-André Hamelin spielt, würde ich zu viel Zeit brauchen, das macht keinen Sinn. Von Chopin sind am schwierigsten die Mazurken. Denn es sind Tänze – und zugleich auch wieder nicht. Ich selbst kann nicht besonders gut tanzen. Es ist schon lange her, dass ich zuletzt in einem Club war. Jetzt fühle ich mich dafür schon fast zu alt.

Hat der Warschauer Wettbewerb Ihr Bild vom Klavierspielen verändert?
Ja, schon. Ich hatte mich nie zuvor so eingehend mit einem Komponisten auseinandergesetzt. Während der Pandemie war ich vollkommen davon besessen. Das hat mir viel genützt. Für die meisten Menschen war der Lockdown eine schreckliche Zeit, mir hat er was gebracht. Ich bin völlig in mich gegangen, und habe viel Spontaneität gewonnen dabei. Schlimm zu sagen, aber ich würde mir das fast wieder wünschen. Aber das tue ich natürlich nicht. Ich hatte viel Zeit, über mich nachzudenken. Meine freundschaftlichen Kontakte aber habe ich völlig verloren.

Aus Kanada, wo Sie aufgewachsen sind, kommen viele große Pianisten, von Jan Lisiecki über Janina Fialkowska bis zu Marc-André Hamelin. Haben alle das, was man ein ‚Glenn-Gould-Trauma‘ nennen könnte?
Sie meinen, weil er so unerreichbar ist? Glenn Gould hat mich eigentlich nicht beeinflusst. Oder höchstens darin, dass auch ich beim Üben eine Weile mitgesungen habe. So wie Gould auf den Aufnahmen. Heute ist er mir musikalisch oft zu rational. Wenn man Pianist ist, gilt: Man muss singen können auf dem Klavier. Nicht am Klavier. – Unter kanadischen Pianisten bewundere ich mehr den viel unbekannteren André Laplante.

Sie sind ein gutaussehender Pianist. Wichtig?
Ich hoffe, dass es mehr auf Persönlichkeit ankommt. Und auf Charakter. Ich glaube schon, dass alles im Leben auf das Spiel und die Musik zurückwirkt. Sogar was wir essen. Alle Musiker, die ich kenne, sind leidenschaftliche Esser. Dass gute Köche als Künstler betrachtet werden, finde ich angemessen. Wichtig ist das Äußere schon, das würde ich nicht bestreiten. Eine Karriere aufbauen kann man darauf nicht.

Wer war ein sehr gut aussehender Klassik-Künstler?
Ich glaube, dass Karajan gut aussah. Er war in den USA schon zu Lebzeiten sogar auf dem Cover von GQ (Gentlemen’s Quarterly). Es liegt an der Energie seiner Person. An innerer Stärke. Die kann man sehen.

Welches ist der wichtigste Körperteil des Pianisten?
Ich würde sagen: die Schultern. Sie übertragen die Energie. Dass die Finger das Wichtigste sind, glaube ich nicht. Man muss immer versuchen, die Kraft nicht an den Ellbogen enden zu lassen. Die Verbindung zum gesamten Körper muss stimmen. Übrigens sind die Schultern – und der Rücken – auch das, was am meisten wehtut, wenn man einen anstrengenden Klavierabend hinter sich hat.

Was tun Sie dann?
Schwimmen. Es ist der beste Ausgleichssport für Pianisten.

Erscheint am 3. November:

Jean-Philippe Rameau, Charles Alkan, Maurice Ravel

„Waves“

Bruce Liu

DG/Universal

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Kai Luehrs-Kaiser, 28.10.2023, RONDO Ausgabe 5 / 2023



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