home

N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Interview · Gefragt

Die künstlerische Saat der Zukunft: Claudio Abbado dirigiert das Orchestra Mozart 2010 © Accademia Nazionale di Santa Cecilia/MUSA

Claudio Abbado

Visionär und Gärtner

Der Tod des großen Mailänder Dirigenten und Menschenfreund jährt sich 2024 zum zehnten Mal. Wir haben uns umgeschaut, wo sein Erbe lebendig gehalten wird.

Als Claudio Abbado am 20. Januar 2014 starb, nahm die internationale Musikwelt mit überwältigender Anteilnahme vom ihm Abschied. Sein künstlerisches Erbe wird seitdem durch umfangreiche neue CD-Editionen und Buchveröffentlichungen lebendig gehalten. Zum zehnten Todestag haben die ihm nahestehenden Orchester und Institutionen auf vielfältige Weise an den weltbekannten Dirigenten erinnert. Die Berliner Philharmoniker, deren Chef er von 1989 bis 2002 war, widmeten ihm im Januar Konzerte unter Leitung seines ehemaligen Assistenten Daniel Harding. „Mit ihm verloren wir einen Musiker, der einzigartige künstlerische und menschliche Qualitäten in sich vereinte“, heißt es auf der Website des Orchesters. Die Staatsbibliothek zu Berlin, die seit 2016 seinen musikalischen Nachlass verwahrt, kündigte an, nach der Erschließung seiner Notenbibliothek die rund 9000 Briefe und Schriftstücke umfassende berufliche Korrespondenz in der digitalen Datenbank Kalliope recherchierbar zu machen.

Im Andenken an Abbado zeigten die Fernsehsender ARTE und der SWR sowie der Schweizer Kanal SRF 1 zwei neue Dokumentarfilme, die nun in den Mediatheken abrufbar sind. Im Fokus des Films „Abbado dirigiert Mahlers ‚Auferstehungssinfonie‘ “ (Regie: Magdalena Zięba-Schwind, ZDF) steht die Aufführung der 2. Sinfonie von Gustav Mahler beim Lucerne Festival 2003. In jenem Sommer präsentierte sich Abbado nach seinem Abschied aus Berlin erstmals mit dem von ihm mitbegründeten Lucerne Festival Orchestra. Musiker wie der Geiger Renaud Capuçon, der Flötist Emmanuel Pahud, der Trompeter Reinhold Friedrich und Antonello Manacorda, der später vom Konzertmeisterpult aufs Dirigentenpodium wechselte, erinnern sich an das gemeinsame Musizieren. Auch in der Doku „Bitte nennt mich Claudio – Der Visionär Claudio Abbado“ (Regie: Beatrix Conrad, SFR, SWR, EuroArts) blicken zahlreiche Wegbegleiter und Freunde auf die gemeinsame Zeit zurück. Alessandra und Daniele Abbado werfen einen persönlichen Blick auf ihren Vater, der auch ein bekennender Naturliebhaber war. Neben seinem privaten Garten auf Sardinien ist in dem Film das idyllische Fextal im Oberengadin zu sehen, wo er auf einem kleinen Kirchhof seine letzte Ruhestätte gefunden hat.

Bei Gedenkveranstaltungen in Abbados Heimat Italien wurden viele Facetten des Künstlers und Menschen beleuchtet, die diesseits der Alpen nicht allen seinen Bewunderern bekannt sein dürften. Im Theater der kleinen Stadt Ferrara, deren Musikleben Abbado mit verschiedenen Orchestern über ein Vierteljahrhundert lang geprägt hatte, wurde an seinem Todestag auch an seinen Einsatz für die Umwelt erinnert. Unter anderem sprach der Landschaftsarchitekt Manfredi Patitucci über den von ihm entworfenen „Bosco Abbado“, eine mit Bäumen und Büschen begrünte Brachfläche am Stadtrand. Vorgestellt wurde außerdem das im Mailänder Verlag Carthusia erschienene Buch „Radici, Maestro!“ („Wurzeln, Maestro!“) . Verse von Pamela Pergolini und fantasievolle Illustrationen von Daniela Iride Murgia sollen jungen Lesern einen Dirigenten nahebringen, der zugleich ein passionierter Gärtner war und der Musik allen in der Gesellschaft zugänglich machen wollte. In einer Ausstellung mit Fotos von Marco Caselli Nirmal aus den Jahren 1990 bis 2013 wurde an die Zeit erinnert, in der Abbado – vor allem mit dem Chamber Orchestra of Europe und dann mit dem Mahler Chamber Orchestra – regelmäßig in der Stadt zu erleben war.

Das Orchester der Akademie St. Cecilia Rom und ihr Chefdirigent Antonio Pappano widmeten Abbado Anfang Februar drei Aufführungen von Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“. Auf einem Symposium unter Vorsitz des Akademiepräsidenten Michele Dall’Ongaro, zu dem auch die Philharmoniker-Intendantin Andrea Zietzschmann ein Grußwort beisteuerte, befassten sich Musiker, Journalisten und Wissenschaftler mit Abbados musikalischem Erbe und seinem gesellschaftlichen Engagement. So sprach unter anderem die Musikologin und Kulturmanagerin Maria Majno über das venezolanische Jugendorchester-Netzwerk El Sistema, dessen Modell Abbado auch in Italien verankern ließ.

Der Musikkritiker Angelo Foletto, der Abbados Schaffen mehr als vier Jahrzehnte lang aus der Nähe verfolgte, hatte sein Buch „Ho piantato tanti alberi“ („Ich habe viele Bäume gepflanzt“) zuvor bereits in der Mailänder Scala vorstellen können. Foletto lernte den Dirigenten 1968 kennen, kurz nachdem dieser an das Opernhaus gekommen war. In dem Band sind Porträts, Interviews, Konzertrezensionen und andere Betrachtungen über Abbado von den Siebzigerjahren bis heute versammelt. Der Titel spielt darauf an, dass Abbado seine künstlerischen Initiativen als Saat begriff, die in der Zukunft aufgehen würde. Foletto blickt zurück auf die bewegten Zeiten, in denen der Musikdirektor die Scala auch für Arbeiter und Studenten öffnete und Konzerte in Fabriken aufführte. Von dort aus schlägt er einen weiten Bogen von wegweisenden Opernproduktionen wie etwa Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ oder Giuseppe Verdis „Simone Boccanegra“ über Abbados Arbeit mit dem London Symphony Orchestra, den Berliner Philharmonikern, seinen Jugendorchestern und anderen Klangkörpern. Er berichtet über besondere Momente wie das Berliner Antrittskonzert kurz nach dem Mauerfall 1989, die lang erwartete Rückkehr der Philharmoniker nach Italien im Frühjahr 1990, die Geburtsstunde des Lucerne Festival Orchestra oder den ersten Auftritt des Orchestra Mozart in Bologna 2004.

Ebenfalls im Verlag Libreria Musicale Italiana ist auch ein wertvolles Nachschlagewerk erschienen. In dem Buch „Claudio Abbado. Nota per nota“ (Claudio Abbado. Note für Note) von Mauro Balestrazzi sind alle seine Auftritte chronologisch aufgelistet – vom ersten öffentlichen Konzert als Pianist mit dem Streichorchester seines Vaters 1952 in Parma bis zu seinem letzten Auftritt in Luzern im Sommer 2013. Eine Fundgrube selbst für diejenigen, die des Italienischen nicht ganz so mächtig sind. Im Anhang sind historische Programmzettel sowie ein Brief angefügt, in dem Abbado nach seinem Erfolg beim New Yorker Mitropoulos-Wettbewerb 1963 Leonard Bernstein seine Assistenz zusagt.

Corina Kolbe, 10.02.2024, Online-Artikel



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Pasticcio

Gedenken

„Niemals wurde mir mit so viel Aufmerksamkeit und Verständnis zugehört.“ Mit diesen Worten […]
zum Artikel

Festival

Eutiner Festspiele

Ins Freie

Die 73. Eutiner Festspiele weihen mit unter anderem Carl Maria von Webers „Freischütz“ und dem […]
zum Artikel

Pasticcio

Leipzig im Letten-Fieber

Ist sein neuer Rauschebart gewollt? Oder hat Andris Nelsons momentan einfach keine Zeit mehr für […]
zum Artikel


CD zum Sonntag

Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Das Klavierquartett c-Moll des 19-jährigen Strauss war ein Geniestreich, der sofort als solcher erkannt wurde. Komponiert 1883/84, zwischen der ersten Sinfonie und der „Burleske“ für Klavier und Orchester, gilt es als Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Brahms und den Formen der klassisch-romantischen Instrumentalmusik.

Aus einer viel späteren Schaffensphase, nämlich den letzten Kriegsmonaten 1945, stammen die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“. Zu jener Zeit arbeitete […] mehr


Abo

Top