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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Julia Altukhova

Anastasia Kobekina

Musik für die fünf Sinne

Die Cellistin lässt in ihrem Album „Venice“ ihren Assoziationen über die Lagunenstadt freien Lauf.

Wohl kaum eine Stadt ist so umzingelt von Klischees wie Venedig. Die betörende Schönheit der Serenissima ringt mit ihrem Niedergang zur Kitsch-Kulisse, Tradition und Kunstsinn streiten mit der Banalisierung durch Fastfood-Selfie-Invasionen. Venedig als Motto einem Album voranzustellen, scheint riskant: zu nah liegt der Kitschverdacht. Zumal die 29-jährige russische Cellistin Anastasia Kobekina eminent fotogen ist und das Management sie in betont dramatischen oder verträumten Posen ablichten lässt. Im Zoom-Gespräch taucht dann aber eine ganz andere Person am Bildschirm auf: Wuschelmähnig, ungeschminkt, ohne jede Allüre und putzmunter …

RONDO: Ihr Album vereint ein disparates Programm: von Monteverdi und Dowland über Fauré, Nino Rota und Britten bis hin zu Brian Eno. Sie gehen mit dem Programm und dem Kammerorchester Basel auf Tour, wie kriegt man das zusammen im Konzert?
Anastasia Kobekina: Es ist ein völlig anderes Ding, ein Album im Studio einzuspielen und die Stücke hintereinander im Konzert zu spielen. Im Studio gibt man alles für das Mikro, im Saal gilt es, mit dem Saal zu kommunizieren, das ist etwas völlig anderes!

Zumal Sie ja auch das Instrument wechseln müssen, Sie spielen sowohl das moderne Cello als auch Barockcello?
Natürlich, das ist eine Herausforderung, auch spieltechnisch. Aber entscheidend ist es, die Spannung zu halten, auch über diese unterschiedlichen Klangwelten hinweg.

Bei den Adagio-Sätzen höre ich Sie atmen, oder täusche ich mich?
Doch, doch, das stimmt! Man hört mich atmen, wir haben mit dem Tonmeister versucht, diese hörbaren Atemgeräusche zu reduzieren, so gut es geht. Aber alle haben wir nicht rausgekriegt. Das liegt daran, dass das Mikro sehr nah dran ist, ich mag diese Direktheit, aber man hört eben auch mein Atmen. Stört es sehr?

Mich nicht, es ist ein bisschen wie bei Glenn Gould, der mitgesungen und geschnauft hat. Musik wird eben von Menschen gemacht. Jetzt aber zum Thema: Das Album dreht sich um Venedig, hatten Sie dort ein einschneidendes Erlebnis, eine Initialzündung?
Ja, ich war 2020, mitten in der Pandemie das erste Mal dort. Damals waren sehr wenig Menschen in der Stadt, ich hatte das Gefühl, dass ich Venedig sehr persönlich erlebt habe, es war so geheimnisvoll! Als ich danach am Bahnhof stand, habe ich fast geweint, der Abschied fiel mir unglaublich schwer.

Was fasziniert Sie besonders?
In der Nacht ist Venedig eine ganz andere Stadt als am Tag, so still! Und die Straßen, in denen man sich verlieren kann. Ich hatte Glück, die Stadt so zu erleben, ohne Overtourism. Und meine Idee war: Wie kann man diese Gefühle, diese Momente wachhalten, die ich dort erlebt habe? Welche Musik könnte mich in Sekunden zurückversetzen in diese Stadt? Musik kann alle unsere fünf Sinne erwecken und Erinnerungen neu abrufen. So ist für mich dieses Album entstanden.

Hat Sie auch die Musikgeschichte inspiriert?
Natürlich, Monteverdi, Vivaldi, die Kirchen und Theater, die Palazzi, es ist alles voller Erinnerungen und alles so nah!

Wie sind Sie vorgegangen, die Stücke zu kombinieren, haben Sie Ihr Repertoire geplündert oder ganz neu geforscht?
Wir haben versucht, nicht nur historische Stücke zu nehmen, sondern auch Musik von Kurtag, „Limestone & Felt“ von der zeitgenössischen Komponistin Caroline Shaw oder „Emerald and Stone“ von Brian Eno. Wir wollten frei sein und einen weiten Bogen spannen, der persönliche Touch war mir wichtig.

Aber die Vivaldi-Stücke hatten Sie schon im Repertoire?
Es gibt so viel von Vivaldi, eines der Konzerte habe ich schon mit sieben Jahren in Russland gespielt, das taucht auf dem Album aber nicht auf. Ich habe nun Vivaldi-Werke ausgesucht, die zur heutigen Version meiner selbst gesprochen haben.

Sie sind in Jekaterinburg am Ural geboren, wie lange waren Sie dort?
Ich habe bis zum zwölften Lebensjahr dort gelebt.

Wie lange waren Sie nicht mehr in Russland?
Seit dem Ausbruch des Kriegs mit der Ukraine bin ich nicht mehr in Russland gewesen.

Man konnte nachlesen, dass ein Schweizer Veranstalter Sie im März 2022, also kurz nach Kriegsbeginn ausgeladen hat, weil Sie Russin sind. Hat sich das wiederholt?
Nein, das war der einzige Fall bisher.

Zumal Sie ja seit langer Zeit in Deutschland leben und sich vehement gegen den Krieg ausgesprochen haben?
Ja, aber nicht alle wissen das. Es ist eine schwierige Situation, man muss unterscheiden zwischen der offiziellen Haltung in Russland und den Menschen, die dort leben. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Sie waren mit klassischer Musik familiär vorbelastet durch Ihre Eltern?
Ja, mein Vater ist Komponist, beide spielten Klavier, meine Mutter arbeitete in der Musikschule und wir hatten keine Nanny. So habe ich sie oft begleitet. Das hat meinen Weg vorgezeichnet.

Ihr Vater komponiert auch für Sie?
Er hat ein Stück geschrieben für das Album. Immer, wenn ich ein neues Projekt plane, genieße ich diesen absoluten Luxus, bei meinem Vater ein Stück bestellen zu können! Oder wenigstens ein Arrangement.

Sie studieren derzeit noch Barockcello, wie kamen Sie so relativ spät in der Karriere darauf, ganz umzulernen?
Der Grund dafür waren die Bach­Suiten, ich habe sie schon früh gespielt, dann im Studium und in Meisterkursen. Ich bin vielen Lehrern und ihren Interpretationen begegnet, jede hatte ihre Vorzüge, aber mit keiner habe ich mich wirklich wohl gefühlt. Und dann habe ich Kristin von der Goltz im Konzert gehört, das war eine Offenbarung! Jetzt bedaure ich es fast, so spät auf das Barockcello gekommen zu sein, denn es bereichert das musikalische Repertoire so sehr! Ich habe auch für das moderne Cello dadurch viel gewonnen. Manchmal übe ich Stücke erst auf dem Barockcello, um sie anders zu hören.

Haben Sie ein Beispiel?
In der Pandemiezeit gab es in Spanien weiterhin wenige Konzerte. Und dann kam die Frage, innerhalb von fünf Tagen das Schostakowitsch-Konzert zu studieren, ich hatte es lange nicht gespielt. Ich habe dann auf dem Barockcello geübt, die Dissonanzen konnte ich auf der Haut spüren, die Sensibilität dafür ist auf dem Barockcello viel größer. Das hat mir sehr geholfen.

Sie sind sehr aktiv in Sachen Social Media – was möchten Sie erreichen?
Es sind nur ganz kurze Clips, aber so viele Menschen können das hören! Über Social Media entsteht eine Verbindung. Die Leute haben das Gefühl, mich zu kennen, vielleicht kaufen sie dann auch ein Ticket? Ich mag es, zu kommunizieren. Social Media haben Nachteile, aber eben auch Vorteile. Es ist einfach eine Plattform, auf der ich das Publikum erreichen kann.

Neu erschienen:

Claudio Monteverdi, Antonio Vivaldi, Caroline Shaw, Benjamin Britten, Benedetto Marcello, Nino Rota, Barbara Strozzi u.a.

„Venice“

Anastasia Kobekina, Azul Lima, Mariana Doughty, Fran Petrac, Martin Zeller, Leonardo Bortolotto, Kammerorchester Basel

Sony

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Zweiter Bildungsweg

Anastasia Kobekina wurde 1994 in Jekaterinburg geboren, studierte bei Frans Helmerson, Jens Peter Maintz und Jérôme Pernoo. Derzeit studiert sie Barockvioloncello bei Kristin von der Goltz. Sie trat als Solistin mit bedeutenden Orchestern wie den Wiener Symphonikern, BBC Philharmonic, dem Konzerthausorchester Berlin, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen sowie dem Royal Liverpool Philharmonic auf, sie gastierte u.a. im Concertgebouw Amsterdam, im Lincoln Center NY, im Konzerthaus Berlin und der Tonhalle Zürich. Von 2018 bis 2021 war sie BBC New Generation Artist.

Regine Müller, 10.02.2024, RONDO Ausgabe 1 / 2024



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