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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Axel Bahr

Gerd Schaller

Monumentales Geburtstagspräsent

Passend zum 200-jährigen Bruckner-Jubiläum bringt der Dirigent sein Projekt BRUCKNER2024 zum (vorläufigen) Abschluss.

Als frommer Mensch war Anton Bruckner überzeugt davon, dass die Musik, die er zu Papier brachte, letztendlich von Gott persönlich inspiriert wurde. Dass sie dennoch nicht „vom Himmel fiel“, sondern das Ergebnis sorgfältiger Arbeit und Überprüfung in der Praxis war, zeigt die Zahl der Fassungen, in denen die meisten seiner elf Sinfonien – zu den neun zwischen 1865 und 1896 entstandenen „offiziellen“ gesellen sich eine Studiensinfonie von 1863 und die „Nullte“ aus dem Jahr darauf – auf die Nachwelt gekommen sind. Unberührt von Revisionen blieben nur die Sinfonien 5 bis 7, die Neunte liegt als Torso vor, dem es an Vollendungsversuchen nicht mangelt.
In der Tat gleicht Bruckners Schaffen einem Dschungel. Hier empfiehlt sich ein Führer – jemand wie der Dirigent Gerd Schaller, der sich wie kaum ein Zweiter in den gedruckten und handschriftlichen Partituren des österreichischen Großsinfonikers auskennt. Schon seit Jugendtagen ein großer Bewunderer, möchte Schaller ihm zum 200. Geburtstag im Jahr 2024 auf besondere Weise Tribut zollen, indem er das großangelegte Projekt BRUCKNER2024 zum (vorläufigen) Abschluss bringt. Dabei geht es nicht um Rekorde. „Ich wollte mir bewusst viel Zeit nehmen für BRUCKNER2024“, sagt der gebürtige Bamberger, der Bruckners Werke schon zuvor regelmäßig aufgeführt, teilweise auch schon eingespielt hatte, ehe er 2011 zusammen mit dem Label-Chef Günter Hänssler den Stein zu einem umfangreichen Aufnahme-Zyklus ins Rollen brachte. Dessen Anspruch ist es, sämtliche Früh-, Zwischen- und Finalfassungen von Bruckners Sinfonien in einer einheitlichen Interpretation zugänglich zu machen. Über 30 CDs, teilweise als Doppelalben veröffentlicht, sollen es am Ende werden. Schon heute liegen mehr als 20 davon vor.
Neben dem Label sind als Partner der Bayerische Rundfunk/Studio Franken und das 1990 von Schaller selbst in seiner fränkischen Heimat gegründete Festival Ebracher Musiksommer beteiligt. Die wichtigste Zusammenarbeit aber verbindet den Dirigenten mit seinem Orchester, der Philharmonie Festiva: ein fester, phasenweise zusammenkommender Klangkörper, bestehend aus Mitgliedern mitteleuropäischer Spitzenorchester. Ebenfalls von Schaller ins Leben gerufen, dient die Philharmonie Festiva seit 2008 als „Hofkapelle“ des Ebracher Musiksommers. Sie tritt aber auch an anderen Orten auf und erspielte sich rasch einen Ruf als herausragendes Brucknerorchester. „Der Vorteil bei uns ist, dass alle begeistert sind von dieser Musik und wir so einen ganz besonderen gemeinsamen Spirit entwickeln können. Da Bruckner erstaunlicherweise heute noch immer polarisiert, ist das nicht in allen Sinfonieorchestern der Fall“, sagt Gerd Schaller. Als freischaffender Dirigent verfügt er, nach Leitungsstellungen an den Opernhäusern in Braunschweig und Magdeburg, zudem über die Kapazitäten, die ein solch gewaltiges Projekt überhaupt erst möglich machen. „Wenn man in eine Institution eingebunden ist, hätte man gar nicht die Zeit und organisatorischen Möglichkeiten dafür.“

Klang-Kathedrale für Bruckner

Neben der besonderen Verbindung der Musiker und ihres Dirigenten zur Musik Anton Bruckners, stellt auch der Ort eine Besonderheit dar, an der die meisten Aufnahmen für BRUCKNER2024 entstanden: die mittelalterliche Basilika der Zisterzienserabtei Ebrach. Dank prunkvoller Umbauten aus dem 18. Jahrhundert wirkt sie wie eine Art Schwesterkirche des barocken Stifts St. Florian – Bruckners oberösterreichischer Wirkungsstätte von 1845 bis 1855. Nicht nur sein Grab befindet sich hier, auch wurde die Orgel nach ihm benannt. Apropos Brucknerorgel: Ein eigens für den Komponisten gefertigtes und von ihm gespieltes Harmonium hat Gerd Schaller dazu angeregt, mit Bruckners Musik und dem Orgelspiel zwei seiner Jugendlieben miteinander zu verbinden. Einen ganz besonderen Beitrag zu BRUCKNER2024 stellt seine eigenhändige Orgelbearbeitung der 5. Sinfonie dar, die im Mai 2023 erschienen ist. „Nicht alle Sinfonien von Bruckner eignen sich für eine solche Bearbeitung“, sagt Schaller, dem es nicht darum ging, den volltönigen Orchesterklang auf die Orgel zu übertragen, sondern darum die Besonderheiten der Komposition und ihre Modernität herauszustellen.
Wer sich so intensiv mit der Musik eines bestimmten Komponisten auseinandersetzt wie Gerd Schaller versteht nach und nach auch seine Geheimnisse, dringt tiefer noch in die Besonderheiten seiner Techniken ein, als es die schlichte Analyse könnte. Völlig einzigartig wird das Projekt BRUCKNER2024 durch die Einspielung der unvollendet hinterlassenen 9. Sinfonie, zu der Schaller mithilfe des vorhandenen Skizzenmaterials ein neues, Publikum wie Fachwelt beeindruckendes Finale komponierte. Eine weitere Komplettierung des „dem lieben Gott“ gewidmeten Werks, aus der Hand des amerikanischen Bruckner-Spezialisten William Carragan, findet sich ebenfalls unter den Aufnahmen, so dass man direkte Vergleiche ziehen kann. Zuletzt kommt auch der Vokalmusikkomponist Bruckner zu seinem Recht: nicht nur in bekannten Werken wie der späten, 2015 mit dem Philharmonischen Chor München aufgenommenen f-Moll-Messe, sondern auch in den deutlich seltener zu hörenden Psalm-Vertonungen, die Gerd Schaller besonders am Herzen liegen. Die Aufnahme des „146. Psalms“ – ein ebenso unbekanntes wie genialisches Frühwerk – liegt bereits vor.

Neu erschienen:

Anton Bruckner

Sinfonie Nr. 2, Version 1877

Gerd Schaller, Philharmonie Festiva

hänssler Classic/Profil

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Stephan Schwarz-Peters, 10.02.2024, RONDO Ausgabe 1 / 2024



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