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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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Das Gala-Konzert im Münchener Prinzregententheater (hier: Frank Peter Zimmermann) (c) Astrid Ackermann

G. Henle Verlag

Konsequent blaumachen

Vor allem Pianisten und Geiger mögen die edel-schlichten Urtext-Ausgaben des G. Henle Verlags. Nun feiert er sein 75. Jubiläum.

Viele Notenbände präsentierten sich in ihrer ästhetischen Gestaltung bis weit ins 20. Jahrhundert zutiefst barock. Sie waren opulent dekoriert, mit korinthischen Säulen und Putten, die von Blumen und Blättern umrankt werden, und die Werktitel und Komponistennamen waren in verschnörkelte Schrift gekleidet. Doch 1948 kamen plötzlich Ausgaben in schlichtem Blau auf den Markt, mit sachlich modernem Schriftbild. Produziert wurden sie im Verlag von Günter Henle. Der wurde 1899 in Würzburg geboren und war bereits als Jugendlicher ein hervorragender Pianist. Er machte das Klavierspiel jedoch nicht zu seinem Beruf, sondern trat nach dem Studium in den diplomatischen Dienst ein und verbrachte viele Jahre in Berlin, Den Haag, Buenos Aires und London. 1936 stieg er aus, da er ein entschiedener Gegner des NS-Regimes war und wegen seiner jüdischen Abstammung für sich als Diplomat keine Zukunft mehr sah. Bereits 1933 hatte Henle die Stieftochter des Großindustriellen Peter Klöckner geheiratet, der ihn nun in seinem Konzern beschäftigte. Nach Klöckners Tod stieg er in die Konzernspitze auf, wurde daraus allerdings von den Nationalsozialisten 1942 entfernt.
Nun stürzte er sich in die Musik. Dabei störten ihn die fehlerhaften, von Herausgebern verfälschten Notenausgaben seiner Zeit: „Sie waren vielfach mit Vortragsbezeichnungen aller Art so überladen“, schrieb er, „daß manches Werk in seiner Urgestalt unter dem Gestrüpp editorischer Zutaten kaum mehr zu erkennen war.“ Deshalb gründete Henle 1948 den „Verlag zur Herausgabe musikalischer Urtexte“. Dessen Ausgaben sollten aber nicht nur höchsten quellenkritischen Ansprüchen genügen, sondern auch „äußerlich in einem hübschen Gewande dem Musikfreund dargereicht werden“. Günter Henle legte größten Wert auf „klaren, übersichtlichen Notenstich, ausgewogene Raumaufteilung der Seiten, gut leserliche Schrifttypen und ästhetisch ansprechende Gestaltung der Schrifttexte“.
Den Notenstich übernahm über mehrere Jahrzehnte die Universitätsdruckerei H. Stürtz AG in Würzburg, später kamen weitere Notenstechereien in Leipzig und Darmstadt hinzu. Ende der 1990er-Jahre wurde der handwerkliche Notenstich vom Computersatz abgelöst, mittlerweile befinden sich die allermeisten originalen Notenstichplatten im Verlagsarchiv.
Da Günter Henle Pianist war, richtete er seinen Fokus zunächst auf das Klavierrepertoire. So erschienen als erste Notenbände Urtextausgaben zu Wolfgang Amadeus Mozarts Klaviersonaten sowie Franz Schuberts „Impromptus“ und „Moments musicaux“, bald kamen weitere Werke von Barock bis Spätromantik dazu. Mittlerweile ist bei Henle das vollständige Klavierwerk von J.S. Bach, Beethoven, Brahms, Chopin, Debussy, J. Haydn, W.A. Mozart, Schubert und Schumann erhältlich, sowie zahlreiche weitere Klavierstücke zu zwei und vier Händen von Komponisten wie Dvořák, Granados, Grieg, Händel, Liszt, Mendelssohn Bartholdy, Rachmaninow, Ravel, Reger, Satie, Scarlatti und Skrjabin. Neben Klaviermusik verlegt Henle auch Orgelwerke sowie das gesamte Standardrepertoire für Kammermusikbesetzungen. Sängern wird ebenfalls etwas geboten, so gehören zum Verlagsprogramm auch die kompletten Liederausgaben von Beethoven und Haydn sowie die wesentlichen Liederzyklen von Schumann. Urtextausgaben im Taschenformat sowie etliche Faksimile-Ausgaben von Komponistenhandschriften ergänzen das Kernprogramm.
Günter Henle pflegte intensive Freundschaften zu vielen berühmten Musikern wie Yehudi Menuhin, Rudolf Serkin und Arthur Rubinstein, einige von ihnen konnte er auch als Herausgeber von Urtext-Ausgaben gewinnen. Die Neuerscheinungen aus jüngerer Zeit wurden von Meistern wie Evgeny Kissin, Murray Perahia, András Schiff, Tabea Zimmermann und Frank Peter Zimmermann mit Fingersätzen versehen.

Statt Neuer Musik: Neues für die Musik

Was bei Henle verlegt werden darf, ist genauestens in der Satzung der Günter Henle Stiftung festgelegt, die der Verlagsgründer 1972 ins Leben rief. Zeitgenössische Musik und auch Musikpädagogik spielen da keine Rolle. Wer also im Katalog nach Werken von Wolfgang Rihm oder Rebecca Saunders sucht, wird nicht fündig, denn es werden nur Kompositionen verlegt, bei denen das Copyright bereits erloschen ist. Dies ist in Deutschland 70 Jahre nach dem Tod des Komponisten der Fall. „Vor zwei Jahren ist Schönberg frei geworden, und wir sind jetzt schon ganz tief in der Zwölftonmusik“, erklärt der stellvertretende Henle-Verlagsleiter Dr. Norbert Gertsch, „auch mit späten Kammermusikwerken von Schönberg.
Zeitgenössische Musik mag bei Henle daher keinen Stellenwert haben, zeitgemäße Medien und Digitalisierung dafür umso mehr. So avancierte die „Henle Library App“ innerhalb kürzester Zeit zum weltweit beliebtesten Programm für digitale Noten. Anfang des Jahres folgte die „Henle Masterclass“, eine Video-Tutorial-Lernplattform, auf der Klassik-Stars ausgewählte Werke unterrichten, außerdem ist der gesamte Urtext-Katalog digital über die App verfügbar. „Dafür gibt es viele besondere digitale Features“, erklärt Dr. Gertsch, „die nur im Digitalen funktionieren, zum Beispiel kann man Fingersätze ein- und ausblenden oder auch verschiedene Fingersätze über die Noten legen.“ So hält man einerseits am traditionellen Repertoire fest und ist zugleich für die digitale Zukunft gewappnet.

www.henle.de

Unser Buchtipp: 75 Jahre G. Henle Verlag

Gala-Konzert

Am 3. November fand im Münchener Prinzregententheater das Geburtstagskonzert zum 75. Geburtstag des G. Henle Verlags statt, dafür konnten zahlreiche berühmte Künstler gewonnen werden. Dabei waren unter anderen die Pianisten Grigory Sokolov, Martin Helmchen und Claire Huangci sowie die Streicher Frank Peter Zimmermann, Tianwa Yang und Nils Mönkemeyer; es begleitete das Münchener Kammerorchester unter Christoph Poppen. Auf dem Programm standen Werke von Beethoven, Bruch, Brahms und Schumann. Alle Künstler musizierten ohne Gage. Die Ticketeinnahmen gingen an den Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e. V. und die Deutsche Stiftung Musikleben.

Mario-Felix Vogt, 25.11.2023, Online-Artikel



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