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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Marco Borggreve

Philippe Jaroussky

Fest-Platte für Metastasio

Der Counterstar durchwühlt nachts Partituren unbekannter Opern: Als Ergebnis widmet sich sein neues Album vergessenen Arien auf Texte Pietro Metastasios.

RONDO: Vor einigen Jahren noch haben Sie Ihren Rückzug angekündigt, jetzt kommen Sie wieder – mit hochverzierten Arien!
Philippe Jaroussky: Ich habe halt immer noch Lust. Und die Stimmbänder sind noch recht biegsam. Also schiebe ich es noch ein wenig nach hinten. Dowland-Lieder zur Laute, die laufen mir nicht weg, die kann ich noch genießen, wenn ich sechzig bin. Und das Publikum hoffentlich auch. Die bieten keine Schwierigkeiten. Dieses Programm mit vergessenen Arien auf Libretti von Metastasio schon. Deshalb wird es wohl das letzte Mal sein, bei dem ich mich einer solchen virtuosen Herausforderung stelle – zumal ja auch noch eine Tournee folgt. Im Studio solche langen Arien zu singen ist das eine, aber live und mehre Wochen lang – puuh! In weiser Voraussicht habe ich deshalb in der letzten Arie aus Jommellis „Artaserse“, die ich unbedingt dabeihaben wollte, im Da-capo-Teil gekürzt. Sonst hätte sie statt stolzen achteinhalb Minuten fast zwölf gedauert.

Was war also jetzt der Beweggrund für dieses Album?
Zunächst einmal die Partnerschaft mit einem Dirigenten – ich wollte unbedingt eine Aufnahme mit Julien Chauvin und seiner Gruppe Le Concert de la Loge machen. Wir haben musikalisch eine Superverbindung, wir haben schon viele Konzerte gemeinsam gegeben. Als Geiger kenne ich ihn seit über zwanzig Jahren, auch als Konzertmeister von Jérémie Rhorers Ensemble Le Cercle de l’Harmonie, mit dem ich mein Johann-Christian-Bach-Album eingespielt habe. Und außerdem wollte ich zu dieser spätbarocken Musik zurückkehren, die ich inzwischen mit ihrer bisweilen melancholischen Schwerblütigkeit sehr mag. Als ich jünger war habe ich mich mehr im 17. Jahrhundert bewegt, bei Monteverdi, Strozzi, Cavalli. Das sind also jetzt so die Alterssünden, früher war mir das harmonisch zu einfach, jetzt schätze ich gerade das.

Was ist dann das Besondere an dieser Musik?
Der Geschmack ihrer Orchestrierung, der ist sehr subtil. Als reiferer Interpret kann ich das mehr genießen, auch weil meine Stimme heute natürlich besser platziert ist, als zu der Zeit als ich angefangen habe. Auch die Phrasierungen sind länger, das muss man atmen können. Es gibt auch Stücke, wie aus Hasses „Demofoonte“, wo die Baritonlage stärker zum Einsatz kommt. Ich spreche ja in Baritonlage, aber meine Singstimme in diesen Gefilden, die habe ich erst in den letzten Jahren ausgebaut. Das Passaggio war nie meine Spezialität, aber für die Kastratenrollen ist das unabdingbar. Sie haben die Bruststimme vermutlich noch viel öfter als Farbkontrast und Verzierungsmittel benutzt, als wir es uns heute vorstellen können. Das ist eine große Verbesserung für mich. Deshalb ist das Registerzentrum dieser Arien meist etwas tiefer als sonst bei mir. So kann ich jetzt vom hohen A bis zu den tiefen Noten alles besser durchmessen. Und was ich oben verloren habe, habe ich unten dazugewonnen.

Und wie sind Sie jetzt konkret auf dieses Metastasio-Menü gekommen?
Ich fand es spannend, bei einem so bedeutenden Librettisten – und bedeutend war er eben auch, weil sich seine Poesie so gut singen lässt –, nach unbekannteren Vertonungen zu suchen. Seine Libretti sind ja meist dutzendfach immer wieder verwendet worden, wir kennen höchstens ein, zwei Variationen, ob von „L’olimpiade“, „Il re pastore“, „Catone in Utica“, „La clemenza di Tito“ oder eben „Artaserse“. Aber das war erst der dritte Schritt zu diesem Album.

Ok, der erste Schritt war der Dirigent. Und der zweite?
Eigentlich sind es doch vier! Denn ich wollte, noch nicht wissend was, wieder mal Unbekanntes versammeln. Also der dritte Schritt: Wenn ich auf Tour bin, sitze ich gern abends vor dem Computer und checke unbekannte Partituren durch. Da kann ich heute schon sehr schnell sehen, etwa in einer Stunde pro Oper, ob was Gutes zum Singen dabei ist, wie die Orchestrierung sich präsentiert. Oft sind auch die ganzen Werke nicht so toll, aber einzelne, herausragende Arien finden sich immer wieder. Gegenwärtig habe ich bestimmt 200 potentiell für mich interessante Opern in meinem Computer, die ich noch durchforsten muss. Und dann lege ich mir Files mit interessanten Arien an, doch die muss man dann natürlich auch kombinieren können. So wachsen die Projekte ganz langsam. Plötzlich hatte ich also einen prallen Ordner mit spätbarocken Arien, die fast alle von Metastasio waren. Da war der vierte Schritt irgendwie klar …

Die Jagd nach Noten ist aber sicher nicht mehr so leicht, wie vor 20 Jahren?
Nein, vor allem nicht, wenn man wirklich nach noch nie aufgenommenem Material forscht. Denn alle suchen doch heute nach Weltersteinspielungen. Und dann macht man plötzlich bei wirklich unbekannten Komponisten wie Bernasconi, Ferrandini oder Valentini Halt. Manche haben freilich auch nicht die ganzen Libretti, sondern nur eine berühmte Metastasio-Arie komponiert. Natürlich gibt es immer noch Bibliotheken oder Sammlungen an die keiner ran darf, jetzt vor allem leider in Russland.

Was macht Metastasios Dichtung so besonders?
Die Balance der Verse, die Rhythmik, die wohlabgewogenen Kontraste der Worte, das ist schon sehr besonders. Und irgendwie singt es sich auch fein, fühlt sich meist natürlich an, wie sich daraus eine Melodieführung ergibt und die Komponisten sich leicht inspirieren lassen. Ich habe das schon bei meinem Caldara-Album festgestellt, denn er hat als erster „La clemenza di Tito“ und dieses wunderschöne „Se mei senti spirati sul volto“ vertont. Manche berühmten Metastasio-Arien scheinen auch viele andere Tonsetzer herausgefordert zu haben, gerade in der Variation ihr Können zu zeigen. Man könnte wohl sogar ganz radikal auch einmal ein ganzes Album mit nur einem Arientext in unterschiedlichsten Vertonungen besingen. So wie es für die gebildeten Musikliebhaber in dieser Zeit ein Vergnügen gewesen sein muss, den alten Operntext im neuen Klanggewand hören und mit Vorgängeropern vergleichen zu können. Originalität lag in der Variation – etwa zwischen Gluck und Piccinni.

Wird es leichter, Arien auf diese Weise zu Alben zu kombinieren?
Diesmal war es verhältnismäßig einfach. Ich weiß, wie ich die Stimmungen wechseln muss, wie lang es dauern sollte. Und ich wusste auch ungefähr welche berühmten Metastasio-Texte ich gern dabeihaben wollte. In dieser Zeit wurde viel für hohe Soprane geschrieben, das musste ich aussortieren, obwohl es heute ja viele junge Kollegen gibt, die sich sogar in dieser Lage wohlfühlen. Ich suchte nur lange noch nach einem schnellen Auftaktstück für die Platte und so habe ich als letztes diese Bernasconi-Arie aus „L’olimpiade“ gefunden. Die Vivaldi-Variante hat Cecilia Bartoli bekannt gemacht, aber diese hier passt gerade in der Begleitung der Oboen und Klarinetten ganz wunderbar zum Text. Ich muss aber aufpassen auf der Tour: Denn diese und alle anderen Arien sind auch deshalb so effektvoll, weil es darin immer um einen Gefühlshöhepunkt, einen emotionalen Umschwung geht. Meist steht der Held am Rande des Todes. Nun muss ich im Konzert also von einem Höhepunkt zum nächsten kommen!

Neu erschienen:

Andrea Bernasconi, Christoph Willibald Gluck, Luigi Alessandro Piccinni, Giovanni Battista Ferrandini, Tommaso Traetta, Johann Adolph Hasse u.a.

„Forgotten Arias“ – Arien auf Texte von Metastasio

Philippe Jaroussky, Le Concert de la Loge, Julien Chauvin

Erato/Warner

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Stabübernahme

Philippe Jaroussky wurde 1978 geboren, studierte Geige, Klavier und Komposition. 1996 lernte er seine Gesangslehrerin Nicole Fallien kennen, die seine stimmlichen Qualitäten erkannte und ihn bis heute unterrichtet. 2002 gründete er als Dirigent das Ensemble Artaserse. Seither hat er über 40 Alben aufgenommen. Diesen Winter dirigiert er in Paris Sartorios „Orfeo“. Zunehmend will er sich auch Nicht-Barockorchestern als Dirigent stellen. Ende Juni 2024 singt er an der Berliner Staatsoper in der für ihn von Marc-André Dalbavie komponierten „Melancholie des Widerstands“. Zudem ­unterrichtet er selbst seit einigen Jahren an der eigenen Akademie am Konzertsaal La Seine Musicale im Pariser Süden.

Manuel Brug, 28.10.2023, RONDO Ausgabe 5 / 2023



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