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Freigeistiges Interesse am Menschlichen: Louis Andriessen † © Marco Borggreve
„Auch der Musiker wirkt immer und in jedem Fall dadurch, dass er aktiv oder passiv, bewusst oder unbewusst Stellung bezieht zu den gesellschaftlichen Kräften seiner Zeit.“ So beginnt das Manifest „Der Musiker in der Fabrik“, das der Komponist Luigi Nono 1967 aufsetzte. Der Musiker als Homo politicus, der mit seinen Werken Flagge zeigt, hatte speziell in den 1960ern Jahren Hochkonjunktur. So wie Nono empfand sich da nicht nur Hans Werner Henze als komponierender „Genosse“. Ihr links schlagendes Herz verewigten auch der Niederländer Louis Andriessen und der Amerikaner Frederic Rzewski in zahlreichen Werken. Beide waren sie fast ein Jahrgang: Rzewski wurde 1938 in Westfield/Massachusetts und Andriessen 1939 in Utrecht geboren. Und beide sind jetzt im Abstand weniger Tage verstorben.
So unterschiedlich sich ihre Laufbahnen und ihr Klangdenken aber entwickeln sollten – zumindest zu Beginn hätten sie sich durchaus über den Weg laufen können. Anfang der 1960er Jahre zog es beide nämlich nach Italien, wo Andriessen in Mailand bei Luciano Berio und Rzewski in Florenz bei Luigi Dallapiccola studierten. Besonders für Rzewski sollte der Italien- Aufenthalt äußerst prägend sein. Denn dass er damals rasch als Pianist für zeitgenössische Klaviermusik gefeiert wurde, der etwa diabolisch schwere Klavierstücke von Stockhausen aus der Taufe hob, verdankte sich seiner Zusammenarbeit mit eben Dallapiccola. 1966 gründete er in Rom gar mit den Komponistenkollegen Alvin Curran und Richard Teitelbaum das Ensemble „Musica Elettronica Viva“, um die improvisatorischen Schnittstellen zwischen Neuer Musik und Jazz auszuloten. Danach machte er Bekanntschaft mit Jazz-Freigeistern wie Anthony Braxton, aber auch mit dem Minimalisten Philip Glass. Und aus all diesen Quellen, die von strenger Konstruktion und musikalischer Freiheit über Atonalität und Tonalität bis hin zum Jazz und Weltmusik reichen, speisten sich fortan Rzewskis Kompositionen. Wobei ihm mit einem Werk geradezu ein Kultstück moderner Klaviermusik gelungen ist. 1975 schrieb er mit „The People United Will Never Be Defeated“ ein Opus Magnum, für das er eine chilenische Freiheitshymne in 36 Variationen nach allen Regeln der vor allem auf Motorik setzenden Kunstmusik, aber auch mit manchen Jazz-Anleihen und Eisler-Moritaten-Gusto durcharbeitete. In Italien ist Rzewski nun am 26. Juni verstorben.
„Mein Interesse gilt dem Menschlichen, nicht dem Politischen.“ Dieser Satz stammt von Louis Andriessen und damit von einem Komponisten, dessen Schaffen doch stets explizit politische Züge trug. Und dass Andriessen einen gewissen Hang zur Revolte besaß, bewies er 1969, als er mit den Musikerkollegen Misha Mengelberg und Reinbert de Leeuw ein Konzert des Amsterdamer Concertgebouworchesters lauthals störte. Eigentlich hatte sich Andriessen damals geschworen, nie ein Werk für ein ‚bourgeoises‘ Sinfonieorchester zu schreiben. Doch 2013 tat er es wieder und komponierte ein Geburtstagsständchen für das einst so abschätzig behandelte Concertgebouworchester.
Schon früh hatte der Ex-Marxist die aufführungspraktischen Gepflogenheiten konterkariert und auf ein demokratisches Ensemble-Miteinander gesetzt, bei dem jeder einzelne Musiker eine gleichberechtigte Stimme besitzt. Und auch seine Kompositionen für ungewöhnliche Besetzungen stehen für einen Musiker, der sich jegliche schöpferische Freiheit erlaubte und sich daher nie vom musikideologischen Mainstream vereinnahmen ließ. Kein Wunder, dass Andriessen in den Metropolen der Neuen Musik nahezu keine Rolle spielte. Andererseits hat er immer wieder die nötige, bisweilen hochdotierte Anerkennung erhalten. So wurde er 2010 für seine multimediale Dante-Oper „La Commedia“ mit dem amerikanischen Grawemeyer Award for Music Composition ausgezeichnet und zudem mit 100.000 Dollar belohnt. Darüber hinaus folgten Auftragswerke u.a. für das Kronos Quartet und das San Francisco Symphony Orchestra. 1989 war es dann Robert Wilson, der in Amsterdam die Regie von Andriessen Oper „De Materie“ übernahm – die für den Komponisten natürlich so gar nichts mit der traditionsreichen Gattung zu tun hat, wie er damals klarmachte: „Es gibt zwar einen Sopran und einen Tenor, aber der Sopran ist nicht in den Tenor verliebt, und es gibt keinen Bass, der das langweilig findet.“ Am 1. Juli ist Andriessen, der sicherlich der einflussreichste niederländische Komponist des 20. Jahrhunderts war, im Alter von 82 Jahren gestorben.
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Dreizehn Jahre war Roger Norrington Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (vor der Fusion mit dem Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zum SWR Symphonieorchester im Jahr 2016) und hat mit dem sogenannten „Stuttgart Sound“ weltweit für Furore gesorgt. Dabei handelt es sich um eine gelungene Synthese aus historisch informierter Aufführungspraxis und den Klangmöglichkeiten eines modernen Orchesters. Egal ob es sich um Werke von Mozart, Haydn, Brahms oder Beethoven dreht, […] mehr