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N° 1355
27.04. - 08.05.2024

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am 04.05.2024



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Der Spieler

Boris Berezovsky

Boris Berezovsky liebt den Nervenkitzel. Ob am Roulettetisch oder auf dem Klavierhocker. Denn starke Nerven braucht, wer sich wie er ans Schwerste wagt, was je für Klavier komponiert wurde: an die Etüden des polnischen Komponisten Leopold Godowsky.

Eine Tankstelle kann ein Leben verändern. Boris Berezovsky erinnert sich noch ganz genau. Damals, 1987. Sein erster Tag im Westen. Irgendwo in Yorkshire, England. Boris, gerade 17 Jahre alt und gewohnt an „das ewige Grau“ Russlands, betritt also diesen kleinen Shop hinter den Zapfsäulen – und erstarrt. „Es war überwältigend! Als würden Tausende von Farben vor mir explodieren. Es schien mir das Paradies auf Erden.“ Dieser Augenblick trennte alles in ein davor und ein danach. Stärker sogar als das ein Jahr später folgende Debüt in der Londoner Wigmore Hall, das den eigentlichen Beginn seiner internationalen Karriere markierte.
Lang ist’s her. Die Zeiten, als Tankstellen wie Paradiese erschienen, sind vorbei. Paradiesische Zustände erlebt, nein, erschafft Boris Berezovsky, dieser genialische Pianist, heute selbst – aber eben im Konzertsaal. Oder auch auf CD. Gerade hat er die Etüden Chopins aufgenommen, im Original und in den mörderisch schweren Bearbeitungen Godowskys, an die sich kaum ein Pianist herantraut. In einem Laden in Atlanta hat er die Noten gefunden. Und sofort als Herausforderung begriffen. „Ich wollte Chopin besser verstehen lernen. Godowsky hat mir dabei geholfen.“ Die Bearbeitungen gelten als quasi unspielbar. Vor allem die Transkriptionen für die linke Hand haben es in sich, technisch sei das manchmal an der Grenze zum Machbaren und gehöre zum Schwersten in der gesamten Klavierliteratur. „Ravel und Prokofjew sind ein Kinderspiel dagegen“, so Berezovsky.
Auf der CD ist davon nichts zu hören. Der Mann rauscht durch die Etüden, als gäbe es nichts Leichteres. Und kein Morgen. Er ist ein Besessener, ein Spieler wie aus einem Dostojewski-Roman, charismatisch, selbstvergessen, aus der Zeit gefallen. Ein Rückblick: Moskau, 1975. Im zarten Alter von fünf Jahren wird der kleine Boris vom Papa ans Klavier gesetzt. Papa glaubt nämlich, das außergewöhnliche Talent des Filius erkannt zu haben, weil der immer Lieder aus dem Radio nachklimpert. Also geht’s auf eine Spezialschule für musisch Begabte, vier Stunden täglich üben. Boris macht mit. Sein Debüt gibt er mit sieben Jahren in einem Kino, als Kinderüberraschung vor dem Hauptfilm. „Als Gage habe ich Eiscreme bekommen. Das war damals das Größte für mich!“ Trotzdem, die Begeisterung, die totale Hingabe fehlt ihm noch. Boris denkt daran, Fußballspieler zu werden. Erst als er 16 wird, kommt die Wende: Auf dem Plattenspieler dreht sich Tschaikowskis Vierte – und Boris, der nicht weiß, wie ihm geschieht, ist so bewegt, dass er weint. Und er kann nicht mehr aufhören. „Ich werde dieses Gefühl nie vergessen“, sagt Berezovsky. Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte, die bis heute anhält. Und plötzlich taucht da diese Erinnerung wieder auf an jene Tankstelle in Yorkshire. Diese Farben! „Ich suche immer noch nach dieser Explosion“, gesteht Boris Berezovsky. Hier in Paris, beim Interview, hat er sie noch nicht gefunden. Und auch sonst nirgends. Außer in der Musik.

Neu erschienen:

Chopin, Godowsky

Études

Boris Berezovsky

Warner

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Jochen Breiholz, 31.01.2015, RONDO Ausgabe 1 / 2006



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