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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Fanfare

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus: Zugegeben, nicht selten ergreift dieses Wilhelm-Müller’sche, irgendwie auch Franz-Schubert’sche Gefühl von uns Besitz, wenn wir im Theater waren oder in der Oper, im Konzert oder im Museum, jedenfalls an Orten, wo die Kunst wohnt und wo sie eigentlich doch dazu da sein und dienen sollte, unseren Geist, unsere Seele und unseren Körper zu verwöhnen mit nahrhaften Dingen, gleich welcher Couleur und Valeur sie auch sein mögen. Manchmal klappt das mit dem Verwöhnen, wenn auch nicht zu gleichen Teilen dem Verwöhnen aller erwähnten Wesenheiten. Im Fall von Christine Schäfers Liederabend in München, einer Stadt, die wir nur selten in unserem Leben und dann nur deswegen besuchen, weil wir Museen (und was ist München anderes als ein Museum mit Menschen drin?) lieben, also in diesem erwähnten Fall war es zwar nicht die Seele, die berührt wurde (dafür war der Abend zu grob), aber doch und umso stärker der Körper und der Geist. Frau Schäfer, die wie eine Bestätigung des Rimbaud’schen Doppel-Ichs durch die Welt vagiert, um nicht vom Betrieb aufgesaugt zu werden, sang dort, von Eric Schneider famos-fabulös begleitet, die »Winterreise«. Obschon wir die Aufnahme mit den selben Künstlern schon recht gut, um nicht zu sagen bis ins letzte Detail kannten, weil wir sie so oft gehört haben, um ihr Geheimnis zu ergründen, wurden wir auch diesmal erneut heftig angepackt von der messerscharf-zudringlichen, nachgerade existentialistischen Manier, in der die beiden Interpreten den Weg des Wanderers gleichsam mit beschritten durch diese kalte Welt, in der man immer anderswo sein möchte als dort, wo man gerade ist und wo das Wünschen noch nie geholfen hat. Kurz: Es war ein Ereignis, diese »Winterreise«, eines, das man so schnell nicht vergisst.
Und auch München konnten wir diesmal nicht so schnell hinter uns lassen, weil ein zweites Ereignis unsere Aufmerksamkeit erheischte: Pierre- Laurent Aimard spielte Bachs »Kunst der Fuge«. Er spielte sie ganz und gar – und ganz und gar vortreffl ich. Nur einen winzigen Makel wollen, müssen wir festhalten: dass der französische Ausnahmepianist nicht den Schluss wählte, wie er nun einmal ist, abgründig nämlich, sondern dass er ihn glättete und verfugte, indem er einfach ein anderes Ende wählte. Ein anderes Ende könnte man auch bei Schumanns einziger Oper, »Genoveva«, durchaus erfi nden, da waltet doch herrlicher romantischer Kitsch. Und deswegen waren wir froh, in Zürich die vom Willen zur Poesie aus dem Geiste der Aufklärung durchdrungene Arbeit des überaus talentierten Duos Martin Kušej und Nikolaus Harnoncourt sehen zu dürfen, zumal mit Juliane Banse eine zauberhafte und ebenso singende Titelfi gur zur Verfügung stand. Ein wundervoller Abend voller Wunder, den wir dort erlebten.
Gleiches geschah dann auch in Karlsruhe (danach) und Berlin (davor), und das in beiden Fällen mit Händel. In Karlsruhe gaben sie zum Auftakt der Händel-Festspiele den »Giulio Cesare«, Peer Boysen setzte die Bravour oper in Szene, Michael Hofstetter dirigierte die Badische Staatskapelle. Ideenreich, sinnreich, bildreich waren beide Stätten der Kunst, die Bühne wie der Graben. In Berlin, wo wir den »Theseus« sahen (der sich eigentlich »Teseo « nennt, aber an der Komischen Oper eben »Theseus« heißt, weil dort alles eingeteutscht wird), war es mehr die Regie, die uns Vergnügen bereitete. Benedikt von Peter, wahrlich ein frecher Mensch, doch gottlob klug genug, um diese Frechheit der Kunst zu schenken, ließ die Damen und Herren stundenlang durch Schlamm waten, was dazu führte, dass die Klamotten der Protagonisten in toto in die Waschmaschine wanderten nach diesem Abend, und auch dazu, dass man selbst bei der 25. Da-capo-Arie noch amüsiert war über die (allzu) menschlichen Schwächen, die da vor uns ausgebreitet wurden. Was wir daraus lernten: Liebe ist auch nur eine Möglichkeit. Aber man sollte sie nutzen. Sonst rutscht man aus und ist nicht nur schmutzig, sondern überdies unglücklich. Und das, bei allem Verständnis für alles Müller’sche und Schubert’sche in dieser Welt, kann der Sinn des Daseins auf Erden nun wirklich und wahrhaftig nicht sein.
In der Hoffnung, dass Sie, liebe Leser, mir darin beipflichten, verbleibe ich bis zum nächsten Mal
Ihr Tom Persich

Tom Persich, 14.06.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2008



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