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RONDO: Ihren Einstand beim finnischen Label »Ondine« geben Sie im Alter von 45 Jahren mit einem Werk, mit dem viele ihre Karriere beginnen, dem e-Moll-Konzert von Mendelssohn. Reiner Zufall, dass Sie selbst es erst jetzt aufgenommen haben?
Christian Tetzlaff: Alles ist reiner Zufall!
RONDO: Das Stück kennen Sie vermutlich schon aus Ihrem Geigenunterricht.
Tetzlaff: Gespielt habe ich es sicher schon 150 Mal.
RONDO: Hat sich ihr Zugriff darauf grundlegend verändert mit den Jahren? Tetzlaff: Ich spiele heute alles ein bisschen freier, ein bisschen exzessiver. Ansonsten denke ich generell, dass es nur ein bestimmtes Fenster gibt, in dem so ein Stück existiert. Und gerade in diesem Fall wissen wir ganz genau, was Mendelssohn will. Die Partitur ist sehr präzise. Außerdem gibt es einen Briefwechsel mit Ferdinand David, dem Interpreten der Uraufführung, dem Mendelssohn die wichtigsten Sachen genau einbläut. Und schließlich ist da der Bericht von Joseph Joachim, der es mit ihm studiert hat. Man kann dies oder das anders schattieren, anders singen, aber dass man eines Tages ausruft: »Heureka, ich mache alles anders!« – nein.
RONDO: Und bei weniger gut dokumentierten Stücken?
Tetzlaff: Es gibt immer einen riesigen Spielraum, jeden Abend bei der Aufführung – im homöopathischen Bereich. Fast alles ist ja Rubato. So sprechen wir, so empfinden wir, so schlägt unser Herz. Der Spielraum ist der Sprachrahmen, aber keiner, der ein ganz anderes Konzept zulässt. Die Komponisten der großen abendländischen Werke hatten ziemlich genaue Vorstellungen davon, was ein Stück sein soll. Gerade wenn man dem Komponisten auf der Spur bleibt, entstehen die exzessivsten Momente. Wenn man Aufführungen will, die vor Freiheit strotzen, dann sollte man sich ganz genau an das Manuskript halten.
RONDO: Sie haben lange im Ausland mehr Aufmerksamkeit bekommen als in Deutschland. Hat sich das geändert?
Tetzlaff: Ja. Die USA waren lange mein Haupteinzugsgebiet. In London habe ich jede Saison mit allen drei großen Orchestern gespielt, ähnlich war’s in Paris. Ich konnte nie klagen, aber für meine Agentur war es bei uns komplizierter. Seit neuestem ist das anders. In dieser Saison mache ich eine Tournee mit dem Bayerischen Rundfunk und dem NDR und im Herbst mit den Berliner Philharmonikern, dazu der WDR, der Hessische Rundfunk, die Kammerphilharmonie. Dieses Gefühl, es in Deutschland schwerer zu haben, klingt so langsam ab.
RONDO: Zurzeit scheinen bei uns ohnehin die Zeichen wieder verstärkt auf »Geige« zu stehen. Es gibt ziemlich viele gute Kollegen in Deutschland.
Tetzlaff: Ich habe aber nicht das Gefühl, dass das tatsächlich auch so gesehen wird. Wir haben über eine Spanne von sicher 20 Jahren jetzt etliche, die international als Solisten mitmischen. Ich wüsste kein anderes Land, wo das so ist.
RONDO: Das passt irgendwie nicht zusammen mit der allgemeine Klage vom Verfall der musikalischen Ausbildung bei uns und der Angst, dass wir über kurz oder lang von den Asiaten überrannt werden, oder?
Tetzlaff: Erklären kann ich das auch nicht. Ich habe aber doch das Gefühl, dass an unseren Schulen die Achtung vor klassischer Musik mächtig bröckelt. Und dass es noch uncooler wird, klassischer Musiker zu sein, je weiter sich Klassik aus den Schulen zurückzieht, so dass sich junge Menschen, die sich dafür entscheiden, noch verlorener fühlen als zu meiner Zeit.
RONDO: Peter Greiner, der Erbauer Ihrer Geige, kommt ebenfalls zum Konzert heute. Wie hat sich Ihrer Meinung nach sein Meisterstück entwickelt?
Tetzlaff: Kann ich nicht sagen. Dass ist wie bei einem Kind. Wenn das elf Jahre wächst, dann bekommt man das selbst gar nicht mit, aber die anderen sagen: »Mein Gott, ist der groß geworden!«
RONDO: Sie hatten früher zwei Stradivari, eine davon als Leihgabe auf Lebenszeit. Warum haben Sie die zurückgegeben?
Tetzlaff: Ich fand gleich, dass die Greiner besser klingt, und es wäre doch lächerlich gewesen, die anderen da herum liegen zu lassen und nicht zu spielen.
Ondine/Naxos
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