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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Medien · Unterm Strich

Unterm Strich

Ramsch oder Referenz?

CDs, vom Schreibtisch geräumt.

Es gibt, kaum zu glauben, eine neue Referenzaufnahme eines der Hauptwerke von Johann Sebastian Bach. Sie kommt aus unerwarteter Ecke, aufgestiegen wie ein Phönix aus der Asche: Alle 48 Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier hat die polnische Pianistin Ewa Pobłocka eingespielt, ausgerechnet auf einem modernen Kawai-Flügel und für das Chopin-Institut in Warschau, wo sie zuletzt mit Werken von Field und Chopin hervortrat, auf historischen Instrumenten. Ihre Veröffentlichung von Buch I (BWV 846-869) blieb hierzulande fast unbemerkt. Jetzt kam Buch II (BWV 870-893) heraus (NICF/Note 1). Hinreißend diese Vielfalt feinster Schattierungen! Pobłocka artikuliert und verziert die Präludien und Fugen mit hoher Besonnenheit, ihre Tempi sind dehnbar, ihre Kunst, Bachs Klangreden zu entziffern, wirkt in jedem Detail individuell und schlichtweg überzeugend. Und der Kawai? Ist ein Shigeru SK-EX, betreut vom Tonmeister Arimune Yamamoto. Er tönt irisierend präsent, quer durch alle Register bestens ausbalanciert. Man kann sich das anhören auch auf YouTube, die Pobłocka hatte diesen Flügel mitgebracht letztes Jahr, als sie mit einem Bach-Programm gastierte in der Wigmore Hall.

Bach

Das wohltemperierte Klavier, Buch II (BWV 870-893)

Ewa Pobłocka

NICF/Note 1

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Der Pianist Nicolas Hodges benutzt einen Steinway D-274 Grand Piano für sein Album „Archipels“, der ihn vom tiefsten Donnergrollen bis in denkbar höchste, einsam eisglitzernde Stakkatospitzen führt (bastille musique/rudi mentaire distribution). Im Zentrum stehen drei grundverschiedene Versionen eines fast verschollenen Stücks des französischen Komponisten André Boucourechliev. „Archipel 5d“, entstanden 1970, wirkt immer noch gegenwärtig. Der Komponist lieferte dazu „nur“ das Material, die konkrete Form sollte Sache des Interpreten sein, aber auch die des Publikums: „Form entsteht im Zuhören“, so Boucourechliev. Er gehört zum selben Jahrgang wie Pierre Boulez und Gilles Deleuze, also zu einer Generation, die vom zweiten Weltkrieg ebenso geprägt wurde wie von der Achtundsechziger-Bewegung. Als einer der ersten hat er die Aleatorik mit einbezogen in seine Werke. Hodges arbeitet nun daran, das gesamte Klavierwerk von Boucourechliev wiederzubeleben, dieses Album ist erst der Anfang. Ergänzt wird „Archipel 5d“ durch drei Ur- bzw. Erstaufführungen von Rebecca Saunders, Rolf Riehm und James Clarke: späte Studiodokumentation eines Donaueschinger Konzerts, das nie stattgefunden hat, weil es im Pandemiejahr 2020 kurzfristig abgesagt wurde.

André Boucourechliev, Rebecca Saunders, Rolf Riehm, James Clarke

„Archipels“

Nicolas Hodges

bastille musique/rudi mentaire distribution

Das letzte, kurz vor seinem Tod vollendete Werk von Max Reger ist sein Klarinettenquintett A-Dur op. 146. Ein Spätwerk, alles andere als stachelig, vielmehr voll von ahnungsreicher Gesanglichkeit. Mozart und Brahms spuken darin herum. Das Armida Quartett hat sich jetzt mit dem Soloklarinettisten Kilian Herold zusammengetan zu einer Neuaufnahme, die vor allem dem süßen Seelenton des „Fräulein Klarinette“ huldigt, in zauberhaftestem Dauer-Espressivo (CAvi/Bertus). Dazu gekoppelt haben die fünf eine Arbeit von Regers zeitweiliger Schülerin Johanna Senfter. Sie komponierte viel, mehr als 150 Werke, darunter neun Sinfonien. Ob es sich lohnt, diese aus dem Archiv zu holen und aufzuführen, davon lässt sich nach Bekanntschaft mit diesem, ihrem 1950 entstandenen akademisch-gestrigen Klarinettenquintett op. 119, nur abraten.

Max Reger, Johanna Senfter

Klarinettenquintette

Armida Quartett, Kilian Herold

CAvi/Bertus

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Eines der Handicaps von Musikvermittlern ist, dass sie Großes kleinreden müssen. Ist ihr Job. Nur, wie lässt sich eine komplette Oper in die Dreiminuten-Einstiegsdroge für den Nicht-Opern-Gänger verwandeln? Das Solistenensemble d’Accord hat sich auf die alte Praxis der Paraphrase besonnen. Nach ersten Education-Erfolgen mit selbstbearbeiteten „Lohengrin“- und „Tannhäuser“-Fassungen arrangierte die Geigerin und Leiterin dieser Formation, Martina Trumpp, nun auch „Tristan und Isolde“ zu einer Suite für Streichseptett (Coviello/Note 1). Man vermisst die Bläser kaum, weder bei der Jagd noch, wenn der Zaubertrank ausgeschenkt wird. Passagenweise wäre die Nacht der Liebe auch als Hintergrundmusik in gehobenen Nachtbars vorstellbar. Und hatte sich nicht auch schon Richard Wagner in seinen Pariser Hungerjahren mit der hausmusikalischen Bearbeitung der Highlights aus Donizettis Oper „La favorite“ ein Zubrot verdient?

Richard Wagner

Tristan und Isolde (Suite für Streichseptett, arr. Martina Trumpp)

d’Accord

Coviello/Note 1

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Eleonore Büning, 21.10.2023, RONDO Ausgabe 5 / 2023



Kommentare

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gemihaus
Die neue Büning-Bach-Referenz wurde sogleich bei 'jpc' vermarktet, ohne Verweis auf ein Vol.I, das offenbar von allen Bachianern, incl. der Rondo-Büning verschlafen resp.ignoriert wurde ...? Büning ist ja bekannt für ihre Weltklasse-Expertise, aber Bach-Variationen sind ja weniger konsumabel wie Chopins Preludes oder Beethovens Diabellis. Jedoch, wer auch nur Goulds Einspielung wie auch seine 'Goldbergs' kennt, muss nicht beunruhigt sein, allzu Grosses verpasst zu haben - streamed und abgehört auf 'idagio.com' war ich klanglich und pianistisch nicht schier überwältigt. gemi.


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Das Klavierquartett c-Moll des 19-jährigen Strauss war ein Geniestreich, der sofort als solcher erkannt wurde. Komponiert 1883/84, zwischen der ersten Sinfonie und der „Burleske“ für Klavier und Orchester, gilt es als Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Brahms und den Formen der klassisch-romantischen Instrumentalmusik.

Aus einer viel späteren Schaffensphase, nämlich den letzten Kriegsmonaten 1945, stammen die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“. Zu jener Zeit arbeitete […] mehr


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