home

N° 1355
27.04. - 04.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Oper & Konzert · Musikstadt

Großer Garten (c) HMTG/Wyrwa

Musikstadt

Hannover

Im gern als „langweilig“ verschrienen Hannover kann man erstklassig Musik erleben, im Opernhaus genauso wie im großen Barockgarten.

Doch, einmal sei es noch erwähnt, die Staatsoper Hannover machte im letzten Jahr weltweit Schlagzeilen: Weil es dort eine Attacke des inzwischen gewesenen Ballettchefs auf eine ihm nicht sehr wohlgesonnene Kritikerin gab – mittels der Hinterlassenschaft seines Hundes. Aber man sollte nun nicht die stolze Musikstadt Hannover auf diesen sehr außergewöhnlichen Vorgang reduzieren. Zumal etwa die amtierende Opernintendantin Laura Berman ein aufregend-pluralistisches, immer wieder mit diskutierenswerten Inszenierungen auf sich aufmerksam machendes Musiktheater führt.
Und nicht nur dort. Der olle Slogan „Nichts ist doofer als Hannover“ ist längst Vergangenheit. Schon klar: Die Stadt hat nicht den besten Ruf. Sie gilt als Hauptstadt des Mittelmaßes. Und die Hannoveraner wissen das. Aber es stört sie nicht. Sie leben gerne hier; um zu sagen, dass sie ihre Stadt lieben, sind sie zu leidenschaftslos. Aber wenn dann doch mal jemand hochmütig auf sie herabblickt, dann kontern sie gerne: „Was habt Ihr eigentlich? Hannover ist eine Stadt, die noch funktioniert.“ Auch in der Kultur.
Überhaupt die kurzen Wege! Die Halbmillionenmetropole ist von überschaubarer Größe. Im Grunde kann man hier alle Strecken mit dem Fahrrad zurücklegen, und zwar bequem, schließlich sind wir in der norddeutschen Tiefebene. Manchen gar gilt das praktischerweise nahe dem Bahnhof gelegene Opernhaus von Hofbaumeister Georg Ludwig Friedrich Laves, dem Schinkel Hannovers, als das schönste Deutschlands – zumindest seinen klassizistischen Proportionen nach.
Es wurde als „Königliches Hoftheater“ von 1845-52 errichtet und löste das Königliche Hoftheater im Leineschloss ab, in dem seit 1689 Opernaufführungen stattgefunden hatten. 1918 wurde es in Opern- und Schauspielhaus umbenannt und befand sich in der Hand des preußischen Staates. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es im Juli 1943 von Brandbomben getroffen und brannte bis auf die Grundmauern aus. Ende 1950 wurde es wieder in Betrieb genommen. 1950-64 folgten weitere Aus- und Zubauten, unter anderem wurden die Foyerräume im Stil der Nachkriegsmoderne gestaltet.
Der Theatersaal zählt nunmehr rund 1200 Plätze. Seit 1992 steht es als „Niedersächsisches Staatstheater Hannover“ in alleiniger Trägerschaft des Landes. Einen besonderen Stellenwert in der Spielplanpolitik nahm hier stets die Neue Musik ein – die Staatsoper widmete sich nicht nur intensiv den Werken Hans Werner Henzes, Aribert Reimanns, Krzysztof Pendereckis, Karl Amadeus Hartmanns, Detlev Glanerts und Manfred Trojahns. 2020 gewann die Staatsoper Hannover den internationalen „Oper!-Award“ als „bestes Opernhaus des Jahres“.

Pfeif’ auf die Kurfürstin

In Hannover hat große Musik also Tradition, ja der Hof war der Musik sehr zugeneigt. Berühmte italienische Musiker zelebrierten zu allen möglichen Anlässen höchste Virtuosität. Und manchmal diente die Musik auch pikanten Angelegenheiten. So soll der Liebhaber einer Kurfürstin immer die berühmte Follia-Melodie als Erkennungssignal gepfiffen haben, bevor er sich in ihre Gemächer schlich. Hannover, Wolfenbüttel und Braunschweig waren musikalische Zentren in der Barockzeit – mit Auswirkungen bis nach England, denn als Kurfürst Georg Ludwig als George I. dort den Thron übernahm, gingen mit ihm zahlreiche Musiker nach London. Den berühmtesten von ihnen traf er dort zumindest wieder: Georg Friedrich Händel.
Neben Händel trugen viele weitere herausragende Komponisten wie Heinrich Schütz, Johann Rosenmüller, Agostino Steffani oder Francesco Venturini zum Ruhm der Hofmusik in Hannover und Wolfenbüttel bei. Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover steht heute für diese fast vierhundertjährige Erfolgsgeschichte. 1636 wurde es als Hofkapelle gegründet, mit dem Bau des heutigen Opernhauses wurde das Orchester vergrößert.
Der Stargeiger Joseph Joachim war der herausragende Konzertmeister dieser Zeit. Bedeutende Kapellmeister des 19. Jahrhunderts waren Heinrich Marschner und Hans von Bülow, zu den Generalmusikdirektoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählten Rudolf Krasselt und Franz Konwitschny, beide politisch nicht unumstritten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war George Alexander Albrecht mit fast 30-jähriger Dienstzeit ein prägender Chefdirigent. Den aktuell 112 Mitgliedern steht als Generalmusikdirektor seit Sommer 2020 Stephan Zilias vor.

Hannovers grüne Lungen singen

Als zweites wichtiges Orchester vor Ort spielt die NDR Radiophilharmonie, die 1950 als Orchester des Senders Hannover gegründet wurde. Ihre Wurzeln hat sie im Niedersächsischen Sinfonie-Orchester, das seit Ende der 1920er Jahre im Auftrag der Nordischen Rundfunk Aktiengesellschaft (NORAG) für die Rundfunkarbeit des Senders Hannover zuständig war. Um nach dem Krieg die steigende Anzahl an Musikbeiträgen für das Gesamtprogramm des NWDR bewältigen zu können, entschieden die Verantwortlichen, in Hannover ein rundfunkeigenes Orchester aufzubauen. Für diese Entscheidung sprachen auch die Planungen für den Funkhaus-Neubau am Maschsee. Nach Andrew Manze (2014-23) heißt der designierte Chefdirigent ab 2024 Stanislav Kochanovsky.
Hannover birgt mit der Konzertdirektion Schmid zudem eine der größten Klassikagenturen in seinen Mauern. Nach seiner umfangreichen Renovierung erstrahlt dann auch der historische Kuppelsaal in neuem Glanz und bietet bis zu 3.000 Liebhabern vor allem klassischer Musik ein ideales Umfeld. Zwei Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde dieses Bauwerk auf dem ehemaligen Militärgelände „kleine Bult“ unweit des Stadtwaldes Eilenriede feierlich eröffnet. Den Architektenwettbewerb hatte 1910 der junge Stuttgarter Architekt Paul Bonatz mit einem neo-klassizistischen Entwurf gewonnen, das römische Pantheon war Vorbild.
Die Eilenriede, Hannovers grüne Lunge, ist ein riesiger, regelrechter Wald, in dem man sich sogar ganz schön verirren kann. Und er liegt mitten in der Stadt. Der Maschsee, das andere große Erholungsgebiet, erlaubt den Menschen, sich jederzeit ein bisschen wie am Wannsee zu fühlen. Es befindet sich ebenfalls nicht weit vom Zentrum. Und dann gibt es noch den Großen Garten in Herrenhausen, einen der schönsten Barockparks Europas. Und auch hier singt und klingt es. Beim „Kleinen Fest im Großen Garten“ genauso, wie immer im Frühsommer bei den Kunstfestspielen Herrenhausen, die seit 2016 von einem anderen berühmten dirigierenden Sohn der Stadt geleitet werden: Ingo Metzmacher.

Weitere Informationen:

www.staatstheater-hannover.de
www.ndr.de/orchesterchor/radiophilharmonie
www.kunstfestspiele.de

Manuel Brug, 28.10.2023, RONDO Ausgabe 5 / 2023



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Gefragt

Maurice Steger

Deftiger Distelfink

Ein Burnout von zu viel Vivaldi-Spielen? Der Schweizer Blockflötist will es erst gar nicht darauf […]
zum Artikel

Unterm Strich

Unterm Strich

Ramsch oder Referenz?

CDs, vom Schreibtisch geräumt. […]
zum Artikel

Gefragt

Max Richter

Klingt einfach

Längst ist der Komponist eine anerkannte Berühmtheit. Musikalisch mit den Massen zu flirten, war […]
zum Artikel


Abo

Top