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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Martin Förster

Gaechinger Cantorey

Mit Bach das Leben begreifen

Seit Mai widmet sich der Chor unter Hans-Christoph Rademann live Bachs erstem Leipziger Kantatenjahrgang von vor genau 300 Jahren – nun erscheint das erste Album.

Er war bekanntlich „nur“ dritte Wahl. Als man in Leipzig nämlich 1722 einen Nachfolger für den verstorbenen Thomaskantor Johann Kuhnau suchte, wollte man eigentlich Telemann. Nach dessen Absage kontaktierte man Christoph Graupner. Doch sein Dienstherr pochte auf Vertragstreue. So war es schließlich Johann Sebastian Bach, der den Zuschlag bekam. Und diese Personalie rückblickend als eine gute Wahl zu bezeichnen, ist die glatte Untertreibung. Denn mit seiner Ankunft am 22. Mai und dem offiziellen Dienstantritt am 30. Mai 1723 sollte Bach nicht nur für die Musikstadt Leipzig Musikgeschichte schreiben. Und gleich mit seinem ersten Leipziger Kantatenjahrgang legte er den Grundstein für ein Mammutunterfangen seines geistlichen Vokalschaffens.
Sage und schreibe 60 Kantaten umfasst dieses erste Kantatenkonvolut. Dass Bach seine Amtsgeschäfte direkt mit Feuereifer und Fantasie anging, spiegelt seine Leipziger Debüt-Kantate „Die Elenden sollen essen“ BWV 75 wider, die an jenem 30. Mai in der Nikolaikirche erklang. Im Stile einer französischen Ouvertüre setzt das Werk sanft mit Oboenseufzern ein – bevor der Chor die Titelzeile mit dramatischem Gestus auskleidet und damit die bewegende Schilderung vom irdischen Überfluss und dem wahren, himmlischen Reichtum ihren Lauf nimmt.
Schon damals müssen die Kirchengänger anhand der gedruckten Texte diese Kantatenerzählung verfolgt haben. Heute und damit genau drei Jahrhunderte später hat sich hingegen „das Publikum daran gewöhnt, Bachs Kantaten museal zu hören, weniger von den Texten her als von der musikalischen Umsetzung.“ Dieser Überzeugung ist Andreas Bomba, seines Zeichens Musikdirektor der Bachwoche Ansbach und zugleich Dramaturg von „VISION.BACH“. Dahinter verbirgt sich eines der aufregendsten Bach-Projekte der letzten Jahre. Anlässlich des 300. Jubiläums des ersten Leipziger Kantatenjahrgangs führt die in Stuttgart ansässige Gaechinger Cantorey unter ihrem Leiter Hans-Christoph Rademann bis zum 31. Mai 2024 alle Kantaten in insgesamt 23 Konzerten auf. Und um der Modernität der Musik und eben auch der Texte nachzuspüren, lädt man immer wieder Gastredner ein, die, so Andreas Bomba, „über die Rolle des Menschen, seinen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen und mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nachdenken.“
Wie zeitlos aktuell Bachs Musik und damit auch seine ersten Leipziger Kantaten sind, beweist gleichfalls die erste Folge der Dokumentation dieser ersten Konzertserie, die nun als Doppelalbum erschienen ist. Insgesamt fünf Kantaten sind mit dem Originalklangensemble Gaechinger Cantorey sowie herausragenden Bach-Interpreten wie Sopranistin Natasha Schnur, Altus Alex Potter und Tenor Benedikt Kristjánsson zu hören. Ob es sich dabei nun um Leipziger Original-Kantaten wie „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ handelt oder solche vom neuen Thomaskantor aus der Schublade gezogenen und für Leipzig überarbeiteten Juwele wie „Barmherziges Herze der ewigen Liebe“ – Musik und Text werden derart geist- und lustvoll und damit lebendig ausmusiziert, dass man den mottogleichen Untertitel zum „Vision.Bach“-Projekt als ziemlich treffend gewählt empfindet: „Mit Bach das Leben begreifen“.

Neu erschienen:

Johann Sebastian Bach

„VISION.BACH“ – Der erste Kantatenjahrgang Vol. 1

Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann u.a.

2 CDs, Hänssler Classic/Profil

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Guido Fischer, 28.10.2023, RONDO Ausgabe 5 / 2023



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