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N° 1355
27.04. - 04.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Andi Dietrich

Bernhard Ruchti

Beethoven und das Metronom

Die Sache mit dem Tempo: In einer Neueinspielung stellt Bernhard Ruchti seine Vorschläge für die „Hammerklaviersonate“ zur Diskussion.

Beethovens „Hammerklaviersonate“ lässt keinen Pianisten kalt. Die einen betrachten das 1817 komponierte Monumentalwerk als persönlichen „Mount Everest“, die anderen sehen in ihm ein „Monster“, das es zu bezwingen gilt. Die technischen und musikalischen Herausforderungen sind enorm, und hört man sich durch die Diskografie, spürt man selbst oft bei den besonnensten Meistern, wie der Ehrgeiz mit ihnen durchgeht. Insbesondere die dreistimmige Fuge am Schluss klingt nicht selten wie der Beitrag zu einem Beethoven-Schnellspiel-Wettbewerb. Eines ist sicher: Als erster würde Bernhard Ruchti dabei nicht ins Ziel gelangen. Von der heute üblichen durchschnittlichen Aufführungsdauer von rund 40 Minuten hebt sich die soeben erschienene „Hammerklavier“-Einspielung des schweizerischen Pianisten, Organisten und Komponisten deutlich ab; er braucht rund ein Drittel der Zeit länger. Wie kommt es dazu? Bei der Beantwortung dieser Frage beruft sich Bernhard Ruchti auf einen historischen Gewährsmann: „In einem Brief an die Fürstin von Sayn-Wittgenstein äußert sich Franz Liszt über die Aufführungsdauer der ‚Hammerklaviersonate‘. Dabei spricht er von „presque une heure“ – fast eine Stunde.“
Schon seit Längerem beschäftigt sich Ruchti mit dem Thema „Tempo in der Musik“, und zwar in Form eines „angewandten Forschungsprojekts“ mit Namen „Das A Tempo Projekt“. In Begleitung der Recherche- und Forschungsarbeiten veröffentlicht der Musiker Aufnahmen, in denen er seine Ergebnisse am praktischen Beispiel präsentiert. Bislang sind seit 2018 zahlreiche CD- und Streaming-Produktionen sowie auf dem projekteigenen YouTube-Channel Videoaufnahmen von Werken verschiedener Meister des 19. Jahrhunderts erschienen, darunter Klavier- und Orgelwerke von Franz Liszt (u.a. die Orgelfantasie und -fuge „Ad nos, ad salutarem undam“, mit der das A-Tempo-Projekt seinen Anfang nahm), Schumanns C-Dur-Fantasie oder die Chopin-Etüden op. 10.

Hör mal, wer da hämmert

Im Zusammenhang mit der „Hammerklaviersonate“ ist „Tempo“ ein besonders heikles Stichwort, denn mit seinen durchaus diskussionswürdigen originalen Metronomangaben hat Beethoven Pianisten wie Musikwissenschaftlern harte Nüsse zu knacken gegeben. Bekanntlich gehörte das Genie zu den ersten Nutzern des 1815 erfundenen Taktgebers, der es den Komponisten erstmals ermöglichte, ihre Tempovorstellungen schlaggenau mitteilen zu können. Die Zahlen, die Beethoven für seine „Hammerklaviersonate“ vorschreibt, sind allerdings so hart an der Ausführbarkeitsgrenze, dass nicht erst in letzter Zeit Zweifel daran aufkamen, ob das Gerät des Meisters richtig funktionierte oder ob dieser überhaupt in der Lage war, es zu bedienen. Auch ertaubungsbedingte falsche Vorstellungen von der Klangwirkung und Druckfehler in der Erstausgabe werden von manchen nicht vollständig ausgeschlossen.
„Als ich begonnen habe, mich mit dem Werk auseinanderzusetzen, bin ich auf viele Dinge gestoßen, die ich in den angegebenen Tempi nicht schlüssig fand“, sagt Bernhard Ruchti, „einige Sachen waren praktisch unausführbar oder hatten überhaupt keine Wirkung.“ Neben Details in Phrasierung und Dynamik war es vor allem die „Gesamterzählung“ des Stücks, die Ausdrucksebene, deren Reichtum sich in der vorgegebenen Gedrängtheit seiner Überzeugung nach nur eingeschränkt entfaltet. Besonders in der Schlussfuge bekommt man von der feingezeichneten Verschmelzung der kontrapunktischen Linien nur Bruchstücke mit, wenn sie, völlig verdichtet, als Zusammentreffen überstürzter Ereignisse präsentiert wird. Dass ein ausgewiesener Beethoven-Kenner wie Franz Liszt eine andere Sicht auf dieses Werk hatte, davon ist Ruchti überzeugt. In Liszts Sinne möchte er auch seine Interpretation verstanden wissen.
„Natürlich weiß auch ich nicht mit letzter Gewissheit, wie Liszt seine Tempi anlegte, um auf eine Aufführungsdauer von nahezu einer Stunde zu kommen“, gibt er zu, zumal paradoxerweise eine eigene Ausgabe Liszts aus dem Jahr 1857 Beethovens Metronomangaben fast gleichlautend übernimmt. „Es gibt aber eine wesentliche Ausnahme: das zentrale Adagio sostenuto, dessen Tempo er um einige Schläge langsamer angibt – nicht viel, aber deutlich spürbar“, sagt Bernhard Ruchti. Nach einigem Ausprobieren und Ausloten der Gesamtarchitektur ist er bei den anderen Sätzen nun zu Tempi gelangt, die im Schnitt ungefähr halb so schnell sind wie die im Original angegebenen. Neben der in ihrem kontrapunktischen Geflecht viel transparenteren Fuge, erhält hierdurch vor allem das Scherzo ein deutlich stärkeres Gewicht: Es ist auf einmal eine stabile Brücke zwischen dem exaltierten Anfangs-Allegro und dem Adagio, welche häufig in ihrer Wucht diesen fragilen, üblicherweise in zwei Minuten abgehandelten zweiten Satz zu erdrücken drohen. Neben der musikarchitektonischen Plausibilität und der Bezugnahme auf Franz Liszt hat Bernhard Ruchti bei diesem neuen Meilenstein seines A-Tempo-Projekts noch einen weiteren Aspekt im Auge: „Für mich spielt auch das Thema Entschleunigung eine Rolle. Durch die Wahl langsamerer Tempi möchte ich den Hörern Gelegenheit geben, sich tiefer und intensiver auf die Musik einzulassen.“ Ein begrüßenswerter Ansatz in einer von hektischem Hochglanz-Business bestimmten Zeit, in der Geschwindigkeit nur allzu oft mit Können verwechselt wird.

Zuletzt erschienen:

Ludwig van Beethoven

„Beethoven A Tempo II“: Klaviersonate op. 106 „Hammerklavier“

Bernhard Ruchti

CD + DVD, MusicJustMusic/Galileo

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Stephan Schwarz-Peters, 14.10.2023, RONDO Ausgabe 5 / 2023



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