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(c) Gustav Eckart
Grassierende Inflation, kriegerischer Überfall, Putschversuch, Unsicherheit vielerorten: Es ist wahrlich ein turbulentes Jahr – dieses 1923. Dass es zudem (erschreckend) viele Parallelen zur Gegenwart gibt, hat Yaara Tal selbst überrascht, als die Pianistin für die Aufnahmen zu ihrem neuen Album in den Geschichts- und Musikbüchern 100 Jahre zurückgeblättert hat: „Wie damals ist auch unsere Zeit von einer großen Unsicherheit geprägt“, stellt die 68-jährige Israelin fest. „Alte Ordnungen verlieren an Bedeutung und Aussagekraft, was bis dahin als Gesetz galt, ward plötzlich in Frage gestellt.“ Ein gesellschaftlicher Umbruch, der 1923 von einem musikalischen Aufbruch begleitet wurde – oder hat das eine gar das andere ausgelöst?
„Wie so oft in Krisenzeiten hat die Musik eine große Rolle gespielt“, sagt die Wahl-Münchnerin. Und das nicht allein im Ruhrgebiet, wo nach der französisch-belgischen Besetzung die Deutschen spontan zu Protesten auf die Straße gingen und vaterländische Lieder sangen, sondern etwa auch beim Tausch von drei Eiern gegen eine Konzertkarte: „Das zeigt, welch existenzielle Bedeutung die Kunst für die Menschen hatte.“ Grund genug für Tal, sich mit den Werken jenes Jahres näher auseinanderzusetzen, nachdem der befreundete Musikwissenschaftler Tobias Bleek sie mit seinem Buch „Im Taumel der Zwanziger“ dazu angeregt hatte.
Und das eingespielte Recherche-Ergebnis überrascht und fasziniert gleichermaßen, reicht es doch von den impressionistischen Préludes eines Frederick Delius bis zur eigenen Zwölftontechnik Josef Matthias Hauers in seinen Klavierstücken. Tal hat diese Vielfalt in drei Werksgruppen gegliedert: Angefangen bei den musikalischen Bezügen zur Natur und menschlichen Befindlichkeit, etwa in den zauberhaften Klängen Joseph Achrons oder Ernest Blochs entrücktem „Nirvana“ geht es über die unterschiedlichen Zwölftonsysteme von Hauer, Schönberg, Eisler und Klein bis hin zur kompositorischen Reflexion „der psychisch-emotionalen Befindlichkeit der damaligen Gesellschaft“, die sich für die Tastenkünstlerin in den ausgewählten Werken von Leoš Janáček, Federico Mompou oder Alexandre Tansman widerspiegelt.
Eine Stilvielfalt, die – anders als etwa ein halbes Jahrhundert später – Tal auch heute wieder in der „Musik von Oper bis Heavy Metal“ erlebt: „Anything goes.“ Und das im Falle dieses Albums auch (fast) ganz allein: Ihren jahrzehntelangen Klavier- und Lebenspartner Andreas Groethuysen hat die Pianistin lediglich für zwei Stücke dazu gebeten. 1985 waren die beiden erstmals für ein „provisorisches Konzert“ gemeinsam aufgetreten – heute gilt das Paar als eines der weltweit führenden Tastenduos. „Das ‚Provisorium‘ hat sich als einmalige Antwort auf unsere musikalischen Bedürfnisse erwiesen“, schmunzelt die humorvolle Frau. Dennoch: Nachdem sie im ersten Drittel ihres Lebens nur solistisch und im zweiten als Duo unterwegs gewesen sei, wolle sie künftig nun beides miteinander verbinden. Klingt indes nach keiner schlechten Zukunftsidee, wenn die Ergebnisse solch klug durchdachte musikhistorische Projekte wie „1923“ sind.
Sony
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