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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Gefragt

Núria Rial (m. r.) und Nicoleta Paraschivescu mit ihrem Ensemble La Floridiana (c) Rudolf Steiner

Núria Rial

Sprühende Kammer-Opern

Die spanische Sopranistin entdeckt mit dem Ensemble La Floridiana Kantaten und Sinfonien von Benedetto Marcello.

Es ist eine dieser Zoom-Konferenzen, die erst ein bisschen neidisch machen und dann schwierig zu koordinieren sind, weil drei Menschen manchmal gleichzeitig reden und die Zeitverzögerung Sprechbrei produziert. Nicoleta Paraschivescu, künstlerische Leiterin des Ensembles La Floridiana sitzt in einem sehr sonnigen Zimmer in Basel und Núria Rial kommt sogar im Spaghettiträger-Top vor die Kamera. Sie ist gerade in Valencia, wo Ende April bereits sommerliche Temperaturen herrschen. Bloß im Rheinland ist es noch trostlos grau und kalt.
Die beiden Musikerinnen kennen sich schon lange, aus Basel natürlich, Nicoleta Paraschivescu hat an der Schola Cantorum Basiliensis studiert, Núria Rial an der Musikakademie. Man einigt sich darauf, dass die erste Begegnung mehr als 20 Jahre zurückliegen muss. Auch das letzte gemeinsame Projekt ist schon eine Weile her, unter dem Titel „Il primo amore“ präsentierten die Musikerinnen Porträtkonzerte und eine Einspielung von Werken der Haydn-Schülerin Marianna Martines.
Nicoleta Paraschivescu studierte zunächst Orgel, danach Cembalo bei Andrea Marcon, 2011 gründete sie ihr Ensemble La Floridiana: „Die Grundidee des Ensembles ist, unbekannte Musik zu entdecken und das gängige Repertoire zu erweitern. Nach dem Studium habe ich noch ein Doktorat begonnen, ich wollte ein Projekt, wo man spielt und forscht. Parallel dazu habe ich immer wieder in Bibliotheken interessante Sachen gefunden.“ Die Kantaten von Benedetto Marcello habe sie damals schon entdeckt, als noch das Projekt mit der Haydn-Schülerin akut war.

Ein Manuskript öffnet die Tür

Die Grundlage für die Neu-Einspielung der kaum bekannten Werke Benedetto Marcellos bildet ein kostbares, mit Zeichnungen geschmücktes Manuskript, das heute zur Sammlung Schneider-Genewein in Zürich gehört. Diese Sammlung wird von dem Musikwissenschaftler Dr. Nicola Schneider betreut, dessen erklärtes Lebensprojekt es ist, die 1944 im Krieg schwer getroffene Musiksammlung der Hessischen Landesbibliothek zu Darmstadt zu rekonstruieren. Ein Glücksfall war für Paraschivescu der Zukauf der Handschrift dieser Kantaten: „Sie sind noch nie aufgenommen worden. Insgesamt an die 400 Solokantaten von Marcello sind belegt, viele in verschiedenen Handschriften und in verschiedenen Bibliotheken. Aber in dieser speziellen befinden sich zwei Unikate und eine davon haben wir eingespielt. Diese Handschrift ist auch deshalb besonders, weil sie sehr edel und aufwändig gemacht ist, mit Initialen in Aquarell.“
Das Projekt mit den Marcello-Kantaten rumorte schon lange im Hinterkopf von Nicoleta Paraschivescu: „Die Gattung der Solokantate ist sehr speziell – während die Oper damals in Venedig schon sehr prestigeträchtig und, wenn man will, schon eine Art von Massenbelustigung war, sind diese Kantaten für die Palazzi gedacht gewesen, für die besseren Kreise sozusagen. Musik war damals ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens!“
Paraschivescu rahmt sie nun ein mit Sinfonien von Marcello, die auch ursprünglich gedacht waren als Zwischenspiele oder Ouvertüren zu den Kantaten. Im Zusammenklang mit den rasanten, teils dramatischen Sinfonien sind die Kantaten als Mini-Opern zu verstehen, sozusagen als veredeltes, verfeinertes Kondensat der von Marcello kritisierten Gattung Oper. Für die Sopranistin Nuria Rial sind die Kantaten vor allem – „Kammermusik, kleine Perlen!“ Sie schätzt die Intimität der Werke: „Mich hat überrascht, dass die Musik so frisch ist, es gibt eine Fülle von unerwarteten Wendungen, und alles auf engstem Raum. Marcello reichen wenige Takte, in denen ungeheuer viel passiert. Ich war auch überrascht, wie weich die Melodien schwingen, aber es gibt auch viele unerwartete, weite Sprünge. Und echte Ohrwürmer, wie etwa den letzten Satz der Kantate ‚Ti sento amor, ti sento‘“.
Nicoleta Paraschivescu ist besonders beeindruckt von Marcellos Doppelbegabung: „Was die Kantaten unglaublich macht, ist, wie er den Text dramatisch umsetzt. Marcello war ja auch Poet, man nimmt an, dass er die Kammerkantaten auch selbst gedichtet hat.“
Die Auswahl der Kantaten erfolgte gemeinsam, Paraschivescu schlug etwa 24 Kantaten vor und Núria Rial probierte aus: „Ich sitze dann stundenlang am Klavier, und wenn ich fünf Kantaten durchgegangen bin, habe ich einen ziemlich dicken Kopf.“
Letztendlich entschied das Gespür, auch wenn die Auswahl nicht leichtfiel, zumal beide Musikerinnen sich fragen, warum Marcello nicht schon längst öfter gespielt wird. „Schon Bach hat Marcello transkribiert, Telemann hat ihn sehr geschätzt, noch im 19. Jahrhundert sprach man mit großer Hochachtung von ihm“, so Paraschivescu.
Die sehr kleine Besetzung lässt ungewohnte Freiheiten, „sodass jeder viel Raum hat, je weniger Instrumente, desto mehr Raum, und Nicoleta kann weit mehr als nur begleitende Akkorde spielen“, so Núria Rial. Paraschivescu geht noch weiter: „In dieser Art von Kantate musst du als Continuo-Spieler komponieren! Dafür sollte man allerdings den Stil von Marcellos Cembalosonaten kennen. Und ich gebe zu, diesmal war ich stellenweise ziemlich unorthodox …“
Über die Frage, ob Benedetto Marcello typisch venezianische Musik geschrieben hat, muss Paraschivescu länger nachdenken: „Ich wäre vorsichtig, sie als venezianisch abzustempeln. Natürlich hört man bestimmte Konventionen, bestimmte Wendungen, im Bass beispielsweise oft Quintfälle, die kommen auch anderswo vor, das war der Geschmack der Zeit.“ Núria Rial ist besonders angetan von der engen Symbiose zwischen Text und Musik bei Marcello: „Es ist sehr organisch. Seine Frau war Sängerin, er hatte wohl daher eine besondere Affinität zum Verhältnis von Text und Musik. Das ist nicht selbstverständlich, es gibt viele Komponisten, die in dieser Hinsicht eher holprig daherkommen. Dabei sind in seinen Originalen die Texte gar nicht unter den Noten platziert, aber als Sängerin weiß man sofort, wo jede Silbe hingehört, weil es so natürlich ist.“
Für Nicoleta Paraschivescu sind die Kantaten „eine sehr dankbare Gattung, weil sie im kleinen und im großen Rahmen aufgeführt werden können. Mit der Veröffentlichung wollen wir letztlich einen Beitrag leisten an die Community, etwas weitergeben und animieren.“
Núria Rial sieht in dem Projekt auch einen wichtigen Beitrag, über das Repertoire nachzudenken: „Wir waren überrascht, wie reich das komponiert ist und haben das aus musikologischem Interesse gemacht. Wir wollen Marcello bekannter machen. Es wird immer schwieriger, bei Veranstaltern wenig Bekanntes anzubieten, denn es wird immer gefragt nach etwas Populärem, sogar Kommerziellem! Wir hoffen, dass nun auch nach Marcello gefragt wird.“

Erscheint am 9. Juni:

Benedetto Marcello

Kantaten und Instrumentalmusik

Núria Rial, La Floridiana, Nicoleta Paraschivescu

dhm/Sony

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Musikliebhaber aus altem Adel

Benedetto Marcello war Spross einer venezianischen Adelsfamilie, studierter Jurist, politisch aktiv und eine künstlerische Doppelbegabung, denn er war nicht nur Komponist, sondern auch Literat. Er selbst bezeichnete sich als „nobile Veneto dilettante di contrappunto“, also als Laien der Musik. Heute noch bekannt sind „Il teatro alla moda“ und „Estro poetico-armonico“. Ersteres ist eine literarische Satire über die Unsitten der zeitgenössischen Oper, „Estro poetico-armonico“ ist eine große Sammlung von Vertonungen der ersten fünfzig Psalmen der Bibel in italienischen Nachdichtungen, die noch im 19. Jahrhundert von großen Kollegen wie Rossini, Chopin, Bizet und Verdi besonders geschätzt wurden.

Regine Müller, 03.06.2023, RONDO Ausgabe 3 / 2023



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