Startseite · Interview · Gefragt
(c) AstridAckermann
Als Wolfgang Rihm, Anfang zwanzig, in Stuttgart und Donaueschingen seine ersten kraftvollen Orchesterwerke vorstellte, nannte ihn die Kritik einen „Jung-Siegfried“. Das war schon damals definitiv nicht als Kompliment gemeint. Als Rihm fünfzig wurde, war auch das Etikett um ein hübsches Stück gealtert, man sprach nun vom „letzten Großkomponisten.“ Und weil das eigentlich nicht mehr steigerungsfähig ist, werden wohl die fälligen Geburtstags-Ruhmesreden in den nächsten Tagen hin und wieder gesprenkelt sein von alten Polemiken, aber auch von begriffslosem Staunen. Ja, es ist wirklich staunenswert, wie dieser Komponist schon zu seinen Lebzeiten für historisch erklärt wurde. Das liegt nicht nur an den spektakulären Aufführungsquoten.
Rihm gilt als ein Ausbund an Kreativität. 414 Werke soll er inzwischen komponiert haben, laut Auskunft seines Verlags, der Wiener Universal Edition. Dazu rechnen muss man circa 200 weitere Stücke, die teils bei Breitkopf und Härtel herauskamen oder die, zum größeren Teil, als Jugendwerke unveröffentlicht blieben. Diskografisch wurde bis jetzt von all dem nicht mal ein Zehntel erfasst. Selbst sogenannte Erfolgsstücke, die um die halbe Welt tourten, wie das für die Sasha-Waltz-Compagnie zum Tanzstück erweiterte „Jagden und Formen, Zustand 2008“ sind nicht aufgezeichnet worden. Erst jetzt liegt der Mitschnitt eines Konzertes der Münchner Reihe „musica viva“ aus dem Herkules-Saal der Residenz vor, vom Juni 2021, mit dem Symphonieorchester des BR unter Leitung von Franck Ollu. Eine Ersteinspielung, jedoch: Man kann sie bereits vergleichen! Es gibt nämlich die Aufnahme einer älteren Version dieses Orchesterwerks – oder, wie Rihm es nennt, eines früheren „Zustandes“ – und zwar mit dem Ensemble Modern, unter der Dirigentin Dominique My, als CD zwar vergriffen, aber als Download oder im Stream noch zu finden.
„Jagden und Formen, Zustand 2001“ ist um knapp zweihundert Takte kürzer als „Zustand 2008“, es geht zurück auf vier weitere „Zustände“ des Stücks, die zwischen 1995 bis 1997 entstanden sind. Dieses mäandernde Fortschreiben einer Idee ist, als Kompositionsverfahren, typisch für das Musikdenken Rihms: An die Stelle der geschlossenen Form tritt die Freiheit des organisch wuchernden Labyrinths, mit seinen Möglichkeiten des Sich-Verlaufens, sich Verzweigens. Auch die Analogie zur bildenden Kunst ist gegeben, zur Übermalung oder zum Palimpsest. Will man diesen Prozess nachvollziehen, lohnt sich ein Hörvergleich der beiden Aufnahmen erst ab Takt 254 (Track 5).
Dagegen ist der Interpretationsvergleich interessant von Anfang an. An der aparten Besetzung und der solistisch-polyfonen Stimmführung hat sich, von Zustand zu Zustand, nichts geändert. Die Musiker des Ensemble Modern artikulieren deutlich trennschärfer und im Detail transparenter als die des BR-Orchesters, das sich dafür leichter, fließender durch das furios-atemlose Perpetuum Mobile bewegt, von den synkopenreichen Fugati bis hin zum akkordischen Bläserchor-Durchbruch. Dabei legt Ollu, der zwanzig Jahre zuvor, bei „Zustand 2001“ als Hornist schon einmal mitgewirkt hatte, Wert auf eine fast selbstverständliche Eleganz.
Eleonore Büning, 26.02.2022, RONDO Ausgabe 1 / 2022
Von hoch oben schaut Bach herunter. Von einem ihm gewidmeten Mosaikfenster, das die Südseite der […]
zum Artikel
Schätze für den Plattenschrank
Wenn Komponisten einem ein Werk widmen, gilt das mit als größte Anerkennung, die sich […]
zum Artikel
Ein Schuss Jazz, eine Prise Film, ein Löffel Leichtigkeit: bunte Klassik
Dass aus Kuba ein Sound herüberweht, den man in der ganzen Welt versteht, wissen wir unter anderem […]
zum Artikel
Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion
An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.
Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.
Der spätbarocke Dichter Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) begründete seinen Ruhm durch die 1712 entstandene Passionsdichtung „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“. Mit dieser hochemotionalen Schrift war er so erfolgreich, dass gleich 13 zeitgenössische Komponisten diese vertonten, darunter Händel, Keiser, Mattheson und Stölzel. Auch Georg Philipp Telemann lernte den Text 1716 kennen und schrieb in seiner Autobiographie, dass „dessen Poesie von allen […] mehr