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(c) David Goddard
Ihr erstes Album beim neuen Label war im wahrsten Sinne des Wortes ein Donnerschlag. Beschäftigte sich das Attacca Quartet auf „Real Life“ doch mit Größen der Electro-Musik. Namen wie Flying Lotus, TOKiMONSTA oder The Halluci Nation, die sonst eher in den angesagten Clubs von New York oder Los Angeles dominieren und deren hämmernde Beats die vier Amerikaner in eine ganz eigene, neue Klangsprache übersetzten. Klassisch geerdet, aber gleichzeitig ganz am Puls unserer global immer stärker vernetzten und immer schneller werdenden Welt. Für das Quartett, das sich 2003 an der New Yorker Juilliard School gegründet hatte, war es ein Versuch, sich selbst in neue Klangwelten zu pushen, ohne dabei jedoch die eigene musikalische Identität aus den Augen zu verlieren, wie Cellist Andrew Yee betont. „Wir würden nie ein Album machen, hinter dem wir nicht hundertprozentig stehen. Es ist immer Musik, die wir lieben. Da spielt es keine Rolle, aus welchem Jahrhundert sie stammt.“
Diesem Credo folgt nun auch der jüngste Streich des Ensembles, mit dem man wieder ruhigere Töne anschlägt. „Of All Joys“ findet einerseits zurück zu den klassischen Wurzeln, präsentiert sich aber gleichzeitig erneut als virtuoser Spagat zwischen den Epochen, bei dem Musik von Renaissance-Meistern wie John Dowland und Luca Marenzio unter anderem mit zeitgenössischen Kompositionen von Arvo Pärt ergänzt wird. Eine Kombination, die sich für Geigerin Amy Schroeder ganz natürlich ergab. „Pärt ist bekannt für seine Vokalwerke und hat eine starke emotionale Verbindung zur Renaissance.“ Eine schlichte, aber gerade deshalb auf emotionaler Ebene unmittelbar berührende Musik. „Und so wie es in der Welt momentan zugeht, sehnen wir uns glaube ich alle ein wenig nach mehr Klarheit und Schönheit.“
Dem estnischen Komponisten das Anfangs- und Schlusswort des neuen Albums zu geben, unterstreicht dabei für Bratscher Nathan Schram die innere Dramaturgie der sorgsam zusammengestellten Trackliste. „Ich denke, wenn man nicht im Booklet nachschlägt, könnte es einem manchmal schwerfallen, genau zu sagen, welches Stück aus welcher Epoche stammt. Natürlich haben alle Komponisten ihre eigene Identität, aber eben auch sehr viele Gemeinsamkeiten in der Art, wie sie sich einem Stück nähern. Gerade bei Pärt steht für mich die Zeit oft still. Wenn man so will, ist es unsere Art zu sagen, dass dieses Album beinahe in einer zeitlosen Zone existiert.“
Herzstück der Zusammenstellung ist das dritte Streichquartett aus der Feder von Philip Glass, in der der Komponist Motive aus seiner Filmmusik zu „Mishima“ verarbeitete. Ein Werk, bei dem sich die Lesart des Attacca Quartets durch den neu geschaffenen Kontext tatsächlich entscheidend veränderte, wie sich Schram erinnert. „Ich denke, dass es wahrscheinlich schon anders klingen würde, wenn wir ein reines Glass-Programm eingespielt hätten. Wir haben das Album nicht chronologisch aufgenommen und zuerst mit den komplexeren Renaissance-Stücken begonnen. Als dann Glass an der Reihe war, waren wir nach dem Abhören der ersten Takes nicht wirklich zufrieden. Und so haben wir noch einmal angefangen mit anderen Klangfarben zu experimentieren. Man kann also sagen, dass in diesem Fall die Renaissance-Komponisten unsere Lehrer waren, um den richtigen Sound für Philip Glass zu finden.“
Dass viele dazu neigen, seine Musik oft als mathematische Übungen zu sehen und sie deshalb eher nüchtern angehen, lässt sich für Geiger Domenic Salerni nicht immer nachvollziehen, der Glass selbst bei der Probenarbeit erlebte. „Ich durfte in einem früheren Leben – vor dem Attacca Quartet – einmal sein fünftes Streichquartett für ihn spielen. Er hatte damals leider nur wenig Zeit, war aber sehr entspannt und neugierig auf unsere Interpretation. Nur an einer Stelle meinte er, dass wir die Sache zu sehr wie Hip-Hop spielen würden und er sich das eher wie einen amerikanischen Barn Dance vorgestellt hatte. Bei den Dingen, die ihm wichtig waren, hat er seine Meinung klar gesagt, aber gleichzeitig fand er es sehr interessant, was wir aus seiner Musik gemacht haben.“
Trotz einem breit gefächerten klassischen Repertoire, mit dem die vier regelmäßig auf beiden Seiten des Atlantiks gastieren, schätzt das Attacca Quartett gerade dank solcher Begegnungen die Arbeit mit lebenden Komponistinnen und Komponisten. „Es macht die Interpretation viel einfacher, weil man sich austauschen kann.“ Das beste Beispiel ist für Salerni hier die Zusammenarbeit mit Pulitzer-Preisträgerin Caroline Shaw. Eine künstlerische Freundschaft, die bereits mit einem Grammy-Award für das gemeinsame Projekt „Orange“ belohnt wurde. „Es ist wunderbar, im Dialog mit ihr tiefer in die Musik einzutauchen. Aber wenn sich etwas für uns überzeugend anfühlt, ist sie immer sehr offen für unsere Vorschläge.“
Aus diesem Geist heraus nahmen sich die vier nun auch bei „Of All Joys“ die Freiheit, überwiegend Titel auszuwählen, die ursprünglich nicht für Streichquartett konzipiert wurden. Was für Andrew Yee einen frischen Blick auf persönliche Lieblingsstücke ermöglichte. „Wir hatten das Gefühl, dass wir Werke aufnahmen, die uns irgendwie vorenthalten worden waren. Und Musik hatte uns noch nie zuvor so sehr bewegt, dass wir zwischen den Aufnahmen innehalten und einfach weinen mussten. Hoffentlich haben wir dieses Gefühl der Freude eingefangen, die all das in uns ausgelöst hat“.
Sony
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