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(c) Katja Ruge/Decca
Für einen kurzen Moment der Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts reihte sich neben Metropolen wie Wien, Paris und London ganz selbstverständlich auch das (damals) kurpfälzische Residenzstädtchen Mannheim ein. Denn die dort ansässige Hofkapelle war bestückt mit erstklassigen Musikern und entwickelte enorme Kreativkräfte, die weithin ausstrahlten. Die Mitglieder der Hofkapelle wirkten auch als virtuose Solisten und komponierten sich das Repertoire für ihr neuartig formiertes Orchester gleich selbst auf den kollektiven Leib. Die Mannheimer Hofkapelle genoss zu dieser Zeit einen legendären Ruf und galt unangefochten als bester Klangkörper Europas. Wolfgang Amadeus Mozart war tief beeindruckt von der Mannheimer Musikszene und schrieb 1778: „Wie ich Mannheim liebe, so liebt auch Mannheim mich“. Insbesondere zeigte er sich von den dort seit 1758 eingesetzten Klarinetten fasziniert.
Es gibt unzählige Zeugnisse der besonderen Qualitäten des Mannheimer Orchesters, wie etwa jenes von Charles Burney von 1772: „Es sind wirklich mehr Solospieler und gute Komponisten in diesem, als vielleicht in irgend einem Orchester in Europa. Es ist eine Armee von Generälen, gleich geschickt einen Plan zu einer Schlacht zu entwerfen, als darin zu fechten“. Doch obwohl die „Mannheimer Schule“ und ihre Protagonisten damals derart einflussreich waren, gelten die Werke ihrer wichtigsten Komponisten bis heute oft als zweitrangig.
Dem tritt nun der Klarinettist Andreas Ottensamer entgegen und liefert mit der Kammerakademie Potsdam und seinen Berliner-Philharmoniker-Kollegen Andreas Mayer und Emmanuel Pahud ein überzeugendes Plädoyer für diese Musik – mit einer Neueinspielung, die mit spannungsreicher Dramaturgie und ansteckender Spielfreude imponiert. Der Impuls für das „New Era“- Projekt lag für Ottensamer in der Neugier, dieses noch weitgehend unbekannte Repertoire in seiner ganzen Komplexität und Tiefe überhaupt erst zu entdecken: „Kompositionen der Meister der Mannheimer Schule werden gerne als leichte Kost gehandelt. Es heißt immer, dass diese Literatur keine hohen technischen Anforderungen stellt. Aber das trifft es nicht einmal ansatzweise, die Herausforderungen sind nämlich immens!“
Tatsächlich staunt man schon bei Johann Wenzel Anton Stamitz’ (1717 – 1757) Klarinetten-Konzert in B-Dur in den Ecksätzen über hoch virtuose Kapriolen und im langsamen Satz über schier endlos singende Legati mit strömenden Haltetönen, die wie ein Vorschein von Mozarts A-Dur-Seligkeiten klingen – von Ottensamer mit exquisitem Stilgefühl, luftig elegantem Ton und zugleich maximaler Vibrato-Kontrolle geblasen. Nicht weniger als 120 Konzerte der Mannheimer Schule hat Ottensamer gesichtet, bevor er die nun zu hörende Auswahl traf. „Man muss sich im Vorfeld intensiv damit beschäftigen, um dieser Musik gerecht zu werden. Aber es macht enorm viel Spaß, sich da hineinzufuchsen, um diese spezifische musikalische Sprache zu erlernen. Und um die spezifische Artikulation, Phrasierung und Tongebung zu verinnerlichen, die diese Musik verlangt. Es geht darüber hinaus auch ganz zentral um Ausschmückungen, Verzierungen und Umspielungen. Das wurde damals nicht notiert, denn die Musiker beherrschten diese Sprache, und ihre Kenntnis wurde vorausgesetzt. Uns wird heute dabei viel Fantasie abverlangt, aber man kann auch sehr viel Persönliches zeigen.“
Nun ist es keineswegs so, dass die Musik der Mannheimer Schule gänzlich unbekannt ist. Es gibt sogar eine Gesamtaufnahme aller Klarinettenkonzerte von Stamitz. Solche enzyklopädischen Projekte interessieren Ottensamer jedoch nicht: „Wenn man ehrlich ist, will das doch keiner hören, 15 Stamitz-Konzerte! Wir wollten dagegen eine möglichst spannungsreiche Kombination von Werken dieser Schule. Mich reizt es, einen Gusto der Zeit zu vermitteln, denn das war eine der spannendsten Epochen der Musikgeschichte überhaupt. Und das ist bislang nicht so richtig präsent. Dabei wurde wirklich alles revolutioniert damals, das Orchester, die Klarinette und die Form der Sinfonie. Ebenso wurde die Struktur der Solokonzerte auf den Kopf gestellt, auch deshalb, weil Instrumente wie die Klarinette erstmals solistisch in den Vordergrund traten. Und es wurden Komponisten hervorgebracht aus den eigenen Reihen, die ihre Nachfolger maßgeblich inspiriert haben – eben auch Mozart.“
Wenn man nun die Werke von Stamitz oder Danzi hört – dessen Concertino für Klarinette, Fagott und Orchester in B-Dur op. 47, arrangiert für Klarinette und Englischhorn Ottensamer im Duett mit Albrecht Mayer als aberwitzig verschlungenen Dialog mit lichtgeschwinden Verzierungen und innigsten Legati zelebriert –, wird deutlich, dass Mozarts Klarinetten- Herrlichkeiten eben nicht vom Himmel gefallen sind. Sondern angeregt waren von dem, was er einst in Mannheim hörte. Ein „missing link“ der Musikgeschichte wird hörbar. Zumal auf Danzi hier ganz logisch „Se viver non degg’io“ aus „Mitridate, re di Ponto“ folgt, für Bassklarinette, Flöte und Orchester arrangiert von Stephan Koncz.
„Mozart hat die Mannheimer Erfahrungen wunderbar verwertet. Was dann etwa im ‚Mitridate‘ weiterschwingt – wenn auch mit einer anderen Persönlichkeitsstruktur. Er war hörbar beeinflusst von diesen Erfahrungen. Und Danzi zitiert dann wiederum Mozart“. Ebenfalls zu erleben mit dieser Einspielung, wenn auf das „Mitridate“-Arrangement Danzis Fantasie für Klarinette und Orchester über „Là ci darem la mano“ aus „Don Giovanni“ folgt. Die Meister zitieren also einander gegenseitig.
Ottensamer spielt insgesamt mit schlankem, gebändigtem Ton. „Es ist ein ganz anderes Spiel als in der Romantik, selbst in den melancholischen Sätzen hat es etwas Luftiges. Und die technischen Anforderungen – wenn man nicht nur spielt, was da steht, so wie es typisch war damals – dann kommt man erst auf die Vielschichtigkeit und die technischen Herausforderungen, die diese Konzerte gestellt haben.“
Obwohl die Kammerakademie Potsdam ein Ensemble ist, das sich an historischer Aufführungspraxis orientiert, spielt Ottensamer hier ein modernes Instrument. „Aus dem Grund, weil ich das anders empfinde als bei den Streichern, die ja im 18. Jahrhundert schon ‚fertig‘ waren. Das trifft für die Klarinette aber nicht zu, denn da sind wir ja eigentlich bis heute damit beschäftigt, Mängel zu beseitigen, wie etwa rauschende Töne. Aber ich versuche natürlich, mich mit meinem modernen Instrument in der Artikulation und Luftgebung an die alte Spielweise anzunähern.“
Decca/Universal
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