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20.04. - 01.05.2024

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am 27.04.2024



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Klingendes Museum

Wagners "Ring" in Seattle

Im amerikanischen Seattle spielt man Wagner, wie er im Reclam-Heftchen steht. Nach den ganzen postmodernen „Ring“-Adaptionen der letzten Jahre wirkt das fast schon wieder erfrischend. Findet zumindest Jochen Breiholz, der sich die jüngsten Vorstellungen angesehen hat.

Seattle hat vor allem für Wagnerianer einen goldenen Klang: Seattle, das amerikanische Bayreuth. Der Ruf entstand Mitte der 70er Jahre, als Glynn Ross, der die Seattle Opera 1963 gegründet hatte, zum ersten Mal den „Ring des Nibelungen“ an seinem Haus herausbrachte. Bis 1983 spielte die Company die Tetralogie jede Spielzeit, immer abwechselnd auf Deutsch und auf Englisch. Eine Kontinuität, die kein anderes amerikanisches Haus vorweisen kann.
Die drei Zyklen, die die Seattle Opera in diesem August präsentierte, waren seit letztem Herbst ausverkauft. Der „Ring“ in Seattle ist Kult und ohne Frage das bedeutendste kulturelle Ereignis der Stadt. Ein Muss für jeden, der dazugehören will. Man geht die Dinge entspannt an. Nichts von heiliger Weihe, Bayreuth ist fern, keine bierernst verklärten Blicke. Viele im Publikum sehen aus, als wollten sie zu einer Strandparty. Flipflops und Shorts sind keine Seltenheit. Natürlich gibt es auch den vereinzelten Smoking, das einsame Abendkleid, aber erlaubt ist, was gefällt, und den meisten gefällt, dass kein Dress-Code existiert, an den sie sich halten müssten.
Dann geht’s los, genau so, wie’s bei Good Old Richie in den Regieanweisungen steht: auf dem Grund des Rheins. Die Rheintöchter schwimmen in schwindelnden Höhen. Das heißt, sie hängen im Flugwerk und werden durch die Luft gezogen, auf und ab und seitwärts. Silbrig glänzen ihre Meerjungfrauen-Fischschwänze. Regisseur Stephen Wadsworth und sein Bühnenbildner Thomas Lynch folgen dem Wort des Meisters auf Schritt und Tritt. Fast immer. Bergeshöhen, wilde Wälder, Felsengeklüft. Wenn es der Wille des Gesamtkunstwerklers Wagner ist, dass die Götter am Ende des „Rheingolds“ über einen Regenbogen in Walhall einziehen – bitteschön, dann tun sie das in Seattle natürlich auch! Zugegeben, das ist technisch so brillant gelöst, dass wir staunen und tief beeindruckt sind. Wo sonst auf der Welt sieht man das? Selbst Otto Schenks Produktion an der New Yorker Met hält sich nicht so eng an die Bilder, wie Wagner sie wollte.
Natürlich könnten wir uns jetzt entsetzt abwenden und „Kitsch!“ rufen. Natürlich könnten wir sagen, dass das vorgestrig und nicht mehr zeitgemäß und überhaupt lächerlich sei. Tun wir aber nicht. Seattle gibt uns die Möglichkeit, den „Ring“ so zu sehen, wie er ursprünglich gedacht war. Das ist wie eine Zeitreise, wie ein Museum, sicher, aber ein Museum muss nicht schlecht sein, weil es etwas aus einer anderen Zeit zeigt. Jeder kennt „Ring“-Inszenierungen, die im 19. Jahrhundert oder in den 20er Jahren oder in der Gegenwart oder in der Zukunft unter Bankern und Managern und Gangstern spielen. Kaum einer, auch nicht der am weitesten gereiste Wagnerianer, kennt etwas anderes. Hier sieht der Drache aus, als sei er aus Steven Spielbergs „Jurassic Park“. Flügel hat der auch. So müssen Drachen aussehen!
Die Besetzung? Ewa Podles ist eine grandiose Erda, Stephanie Blythe eine fulminante Fricka. Inakzeptabel dagegen die Brünnhilde der Jane Eaglen, deren Stimme ihre besten Tage längst hinter sich hat. Das Orchester unter Robert Spano kann es dagegen mit berühmteren Klangkörpern aufnehmen: Wagner webt und schwebt und fließt und flimmert hier, dass es uns wonnig umwogt.

Jochen Breiholz, 21.02.2015, RONDO Ausgabe 5 / 2005



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