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27.04. - 08.05.2024

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am 04.05.2024



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Blick aus der Ferne

Pierre-Laurent Aimard

Der Mann hat Nerven. Spielt Ravels „Gaspard de la nuit“, als ob’s ein Leichtes wäre. Schwerer noch als Balakirews berüchtigte Fantasie „Islamej“ sollte das Opus werden mit seinen wahnwitzigen Tonrepetitionen: Klavier- wie Biomechanik finden hier oft ihre Grenzen. Nicht so bei Pierre-Laurent Aimard, den Raoul Mörchen in der Kölner Musikhochschule traf.

Nun gab es freilich immer Pianisten, die selbst diesen „Gaspard“ in den Griff bekamen – Martha Argerich etwa oder Ivo Pogorelich. Auch Pierre-Laurent Aimard, das war klar, würde darüber nicht stolpern. Vielleicht hat sogar der eine oder andere erwartet, dass er es besser machen würde, noch ein bisschen sauberer, gleichmäßiger, brillanter. Doch dem ist nicht so. Aimard spielt nicht perfekter als die besten seiner Kollegen, er spielt einfach müheloser. Für keinen Moment geht er in den roten Bereich: Der Klang löst sich ohne Mühe und Schärfe aus dem Klavier, die Partitur verliert alles Spektakuläre, Virtuose. Mag sein, dass diese Musik höllisch schwer ist, interessieren muss uns das nicht.
So also ist es gut und richtig, dass Pierre- Laurent Aimard sich all die Arbeit aufgehalst hat: noch einen weiteren „Schatzmeister der Nacht“ aufzunehmen und den Vergleich zu riskieren mit den vielen Einspielungen, die es schon gibt. Aimard will eine Kurskorrektur, will Ravel aus der Sackgasse einer eindimensionalen Lesart führen. Für ihn steht sein Landsmann mit beiden Beinen im 20. Jahrhundert. Romantik und Impressionismus sind passé, die große Zeit der Virtuosenmusik auch. „Französischer Expressionismus“ schlägt Aimard augenzwinkernd als Bezeichnung für Ravels Musik vor – um gleich hinterherzuschieben, dass „französisch“ hier nicht bloß eine Nationalität, sondern eine Haltung anzeigt: „Ravels Musik ist klar und sie ist streng geordnet.“ Deutsche Musik zum Beispiel setzte in der Geschichte meist andere Prioritäten.
Aimards Ravel klingt dementsprechend: präsent und sehr durchsichtig, elegant, aber nicht aufgeblasen, maßvoll und zurückhaltend, gelegentlich auch kühl. Die Fantastik der drei Nachtstücke, ihre Bildhaftigkeit und Plastizität gehen dadurch nicht verloren, wohl aber erleben wir sie aus größerer Distanz. Ravel, der unberührbare Dandy, hätte wohl seine Freude an Aimards Blick aus der Ferne.
Und noch ein anderer Komponist kann sich freuen: Elliott Carter. 1908, just in jenem Jahr also, als Ravel seinen „Gaspard“ komponierte, wurde er geboren, seit den 1950er Jahren schreibt er eine kompromisslos komplexe, vielschichtige Musik, die es Interpreten wie Hörern gerne schwer macht. Carter sei ein akademischer Langweiler, behaupten manche. Aimard natürlich nicht. Sexy oder nicht, das ist manchmal bloß eine Frage der Herangehensweise. Aimard macht es ganz einfach so: Was er Ravel nimmt, das gibt er Carter. Die großräumigen „Night Fantasies“ von 1980 klingen auch bei ihm nicht pompös oder gar schwülstig, wohl aber sind sie voller Farben, voller Leben und auch Wärme. Spricht Aimard bei Ravel über Form, schwärmt er bei Carter vom „Wechselspiel der Atmosphären und Launen“ und spielt die Nachtfantasien auch so: atmosphärisch, launisch. So kann er die Dinge zurecht- und zwei beinahe konträre musikalische Welten ein gutes Stück zusammenrücken.
„Das Programm ist eine Herausforderung“, sagt Aimard, doch das klingt aus seinem Mund nicht wie eine Entschuldigung. Eher wie ein Gütesiegel. „Ich bin nicht daran gewöhnt, Dinge zu tun, die von mir erwartet werden. Ich überrasche lieber meine Zuhörer und mich selbst – so hat man die besten Chancen, wirklich lebendig zu bleiben.“ Die in den letzten Jahren zunehmende Beschäftigung mit klassischem Repertoire widerspricht dem nicht, sondern unterstreicht gerade diese Devise. Aimard, der große Spezialist für die Nachkriegsavantgarde, Geburtshelfer und treuer Wegbegleiter so vieler neuer Werke, sucht auch in der Vergangenheit nicht die Bestätigung, sondern die Entdeckung. Die Konfrontation Elliott Carters mit Maurice Ravel ist eine weitere wichtige Station auf dieser Expedition. Der Weg ist das Ziel. Möge Aimard es nie erreichen.

Neu erschienen:

Ravel, Carter

Gaspard de la nuit, Night Fantasies u.a.

Pierre-Laurent Aimard

Warner

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Mozart

Klavierkonzerte 6, 15 u. 27

Pierre-Laurent Aimard, Chamber Orchestra of Europe

Warner

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Raoul Mörchen, 21.02.2015, RONDO Ausgabe 5 / 2005



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