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Wo früher schmucklose französische Militärkasernen standen, prägen heute Solardächer, Horden spielender Kinder und unzählige Fahrräder das Erscheinungsbild des Vauban-Geländes in Freiburgs Süden. Mittendrin sorgt ein 40- jähriger Familienvater – den man gut und gerne eine Dekade jünger schätzen würde – dafür, dass die Kinder ins Bett gehen und nicht mehr allzu lange „Harry Potter“ hören. Jean-Guihen Queyras fühlt sich wohl im Schwarzwald. In Montréal geboren, groß geworden mit Harnoncourt-Platten in Algerien und Frankreich, sieht sich der Cellist nicht als Großstadtmensch, schätzt die Mischung aus Beschaulichkeit und regem Kulturleben – etwa die Arbeit mit dem Freiburger Barockorchester oder auch seine Professur in Stuttgart.
Mit dem FBO spielte er 2004 Haydnkonzerte ein. Hört man allein den atemberaubenden Ritt über die Darmsaiten im Finalsatz des C-Dur-Konzerts, so erfährt man schon einiges über die Musizierlust und -kunst des quirligen Kanadiers. Queyras jedoch in der Schublade der „Historiker“ zu verstauen, wäre unsinnig, da gibt es nämlich auch den Modernen, den langjährigen Solisten in Boulez’ Ensemble intercontemporain. Wollen wir das romantische Repertoire nicht unterschlagen, so bleibt ein ständiges Springen zwischen musikalischen Welten, dessen einzige Konstante sein Instrument von Gioffredo Cappa (1696) zu sein scheint, das er für die verschiedensten Anforderungen lieber umständlich umbaut, als auf ein anderes zu wechseln. „Mein Instrument ist mein Kumpel“, verrät er strahlend. „Die Darmsaiten sprechen leichter an, sind schneller. Natürlich kann auch leichter etwas schiefgehen. Ich glaube, ein Teil der Energie, die man beispielsweise beim Haydn spürt, kommt daher, dass man immer auf der Kippe ist. Man kann nie relaxen.“
Nun hat Queyras die Bach’schen Cellosuiten komplett eingespielt. Damit stellt er sich automatisch einer Diskussion, in der Begriffe wie „Heiligtum“, „Altes Testament“ oder „musikalische Exerzitien“ umhergeistern. Ihn selbst irritiert solcher Überbau: „Bach hat so viele Facetten, auf der einen Seite diese Konstruktion und Logik, auf der anderen Seite aber auch Esprit, Scherz und die physischen, tänzerischen Aspekte der Musik, also alles andere als etwas Asketisches.“ Die Aufnahmen entstanden sechs Tage hintereinander, pro Tag eine Suite. „Danach war ich völlig erledigt. Die Suiten erfordern immense Konzentration.“ Auf die Frage nach prägenden Interpretationen fällt zum einen der Name Anner Bijlsma, bei dem er die Werke intensiv studierte, und zum anderen – vielleicht etwas überraschend – die erste Einspielung Yo-Yo Mas mit ihrer „absolut faszinierenden Balance von Lyrik und Rhetorik“.
Den Bach hat Queyras auf der modernen Version seines Cellos eingespielt. Dass er „momentan bei Bach mehr modern zuhause“ sei, liege wohl an seinem Projekt „6 Suites, 6 Échos“, bei dem er Komponisten mit einem „Kommentar“ zu je einer Bachsuite beauftragte und diese dann pärchenweise auf dem modernen Cello aufführte. „Das Projekt gibt wie im Zeitraffer meine Auseinandersetzung der letzten zehn Jahre mit der Bach’schen Musik wieder."
Solange die Balance stimmt, fühlt sich Jean- Guihen Queyras pudelwohl – „auf der Kippe“ zwischen Stahl und Darm, zwischen Carnegie Hall und Hochschule und zwischen Frankreich und Deutschland, zumal der „französisch Fühlende“ im Schatten des Freiburger Münsters eine der „weltbesten Fromagerien“ für sich entdeckt hat.
harmonia mundi
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