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N° 1355
27.04. - 04.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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London Brew

London Brew

Concord/Universal 7245869
(89 Min., 12/2020) 2 CDs

Als 1970 Miles Davis’ Doppelalbum „Bitches Brew“ herauskam, konnten die Reaktionen nicht unterschiedlicher sein. Für die einen war das Hörerlebnis ungefähr so, als hätte man ihnen „die Hand am Tisch festgebunden und würde sie langsam mit Nägeln durchbohren“ (Jazzkritiker Stanley Crouch). Andere wiederum, wie der Gitarrist Santana, sprachen von einem „spirituellen Orgasmus“.
Letzteres dürfte auch die Meinung der zwölf britischen Größen des Gegenwartsjazz sein, die sich im Dezember 2020 zum 50. Geburtstag von „Bitches Brew“ in den Church Studios im Norden Londons zusammentaten, um dem Geist der Originalaufnahme nachzuspüren. Und tatsächlich klingt es im ersten Stück, dem 23 Minuten langen „London Brew“, so, als wäre Miles Davis seiner englischen Glaubensgemeinschaft leibhaftig erschienen – da ist inmitten des brodelnden Klanggemischs immer wieder mal ein heiseres Grummeln zu vernehmen, das an Miles’ Stimme erinnert.
Eine Trompete erklingt in dem auf anderthalb Stunden kondensierten Material der dreitägigen Aufnahmesession indes nicht. Stattdessen setzt das von Nubya Garcia und Shabaka Hutchings an Saxofon, Bassklarinette und Flöte angeführte Improvisationskollektiv auf ungewöhnliche Instrumentierungsfarben. Der Einsatz von Tuba (Theon Cross), Geige (Raven Bush) und Melodica (Nikolaj Torp Larsen) verleiht den Stücken einen eigenen Touch, der das zwischen Sound-Eruptionen, solistischen Exkursionen sowie trockenen Rock- und Dub-Beats mäandernde Material in Richtung Folklore und Weltmusik ausweitet.
Was gut zur generellen Philosophie der Einspielung passt: „London Brew“ beschwört den Vibe und die Energie von „Bitches Brew“ herauf, ohne das Vorbild direkt zu kopieren. So stammt das einzig erkennbare Miles-Davis-Zitat, eine verträumte Sopransax-Melodie am Ende des Auftaktstücks, aus dem 1969 veröffentlichten „In A Silent Way“. Womit das Ensemble beweist, dass ihm nicht nur an spirituellen Orgasmen gelegen ist, sondern auch an zärtlicher Vergangenheitspflege in Zeiten kultureller Denkmalstürze. Gut so. Wer weiß, ob „Bitches Brew“ nicht bald wegen seines misogynen Titels und seines toxisch männlichen Urhebers gecancelt wird?

Josef Engels, 08.04.2023


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