Der Titel „Absence“ ist offen gesagt nicht ganz glücklich gewählt – schließlich handelt es sich bei dem Album um eine tiefe Verbeugung des Trompeters Terence Blanchard vor einem Musiker, den das Alter und gesundheitliche Probleme gerade zur schmerzlichen Abwesenheit von der Bühne zwingen. Die Rede ist von Wayne Shorter, der unlängst seinen 88. Geburtstag feierte.
Dabei befänden sich eigentlich genügend passendere Alternativen zum Album-Namen auf der Einspielung, bei der Blanchards elektrisches E-Collective mit dem Turtle Island Quartet gemeinsame Sache macht. „The Elders“ etwa, das Shorter 1978 mit Weather Report aufnahm und dem nun über einem gleichbleibenden Drum-Pattern und einem pochenden Bass akustische und synthetische Klangschichtungen spendiert werden, Miles-Davis-Zitat im Trompetensolo inklusive. Oder, noch besser, „I Dare You“, für das sich Blanchard von einem dieser berühmt kryptischen Shorter-Aussprüche inspirieren ließ: „Jazz bedeutet: Das traust du dich doch eh nicht.“
Dieses Trotzig-Herausfordernde hat sich der Trompeter, dessen „Fire Shut Up in My Bones“ es jüngst als erste Oper aus der Feder eines afroamerikanischen Komponisten auf den Spielplan der Met schaffte, fraglos zu Herzen genommen: So beginnt sein Stück zunächst mit einem aus Beethoven, Funk und dem Stöhnen eines seekranken Cellos zusammengemixten Streicher-Intro – und verwandelt sich dann in veritablen Headbanger-Jazz mit Synthesizern wie Alarmsirenen und einem wiederkehrenden Rockgitarren-Riff à la Led Zeppelin.
Obwohl „Absence“ nur zur Hälfte aus Bearbeitungen von Shorters Werken besteht, ist sein Personalstil doch stets präsent. Sowohl das von Bassist David Ginyard verfasste Titelstück als auch „Dark Horse“ von Gitarrist Charles Altura leben von jener lauernden Nachdenklichkeit und blitzartig erhellten Schönheit, die man oft in den Kompositionen Shorters findet. Auch der Einsatz des Turtle Island Quartet, das in seinem circensischen Alleingang „The Second Wave“ mit washboardartigen Saitenattacken und gewitzten Soli auf Bluegrass-Pfaden wandelt, ergibt durchaus Sinn: Nicht erst seit seinem 2018 erschienenen Opus magnum „Emanon“ mit 34-köpfigem Orchester weiß man, dass Shorter ein großes Herz für Streicher und die Musik von Ralph Vaughan Williams, Aaron Copland oder John Williams hat.
Ein Faible, dass der unermüdliche Komponist auch in seinem aktuellen Projekt pflegt: einer Oper namens „Iphigenia“, die er gerade gemeinsam mit Esperanza Spalding geschrieben hat. Wayne Shorter ist nämlich zum Glück immer noch da.
Josef Engels, 30.10.2021
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