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RONDO: Frau von Otter, Ihr Album über Theresienstadt wurde als eine Art Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf Ihren Vater dargestellt. Richtig?
Anne Sofie von Otter: Nein, das stimmt so nicht ganz. Ich bin Generalstochter. Mein Vater wurde 1907 geboren. Allerdings hatten wir kein sehr enges Verhältnis, was auch mit dem großen Altersunterschied zu tun haben kann. Er hatte etwas Unglückliches, wofür es sicherlich viele Gründe gab. Auf meinen Vater hat ein Treffen mit dem SS-Offizier Kurt Gerstein auf einer Zugfahrt während des Krieges sehr großen Eindruck gemacht. Mein Vater erfuhr damals frühzeitig von den Konzentrationslagern und vom Holocaust. Er hat versucht, das ans schwedische Außenministerium weiterzugeben, wo man es sich anhörte, aber nichts unternahm.
RONDO: Gerstein brachte sich dann in der Kriegsgefangenschaft um.
von Otter: Ja, ich bin aufgewachsen mit dieser Geschichte. Seit den Sechzigerjahren erschienen bei uns immer wieder deutsche Journalisten. Mein Vater trat als Zeuge in Frankreich auf. Gerstein wurde rehabilitiert. Im Jahr 2000 habe ich auf der Holocaustkonferenz in Stockholm gesungen. Damals wusste ich über Theresienstadt noch immer nichts. Man gab mir zehn Lieder und erzählte mir von den Künstlern. Da nahm es seinen Anfang. Mir ging erst später auf, dass es da einen autobiografischen Bezug gibt. Ich wollte mich irgendwie beweisen, auch für meinen damals schon toten Vater. Der Grund dafür, die CD zu machen, war es aber nicht.
RONDO: Sie waren immer eine Sängerin mit einem sehr modernen Image: eine Art »Working Girl«.
von Otter: Als ich jung war, trugen die Sängerinnen noch Rock, hohe Absätze und Dauerwelle. Das mochte ich nicht. Das hat mit meinen Geschwistern zu tun, die immer progressiv und politisch aktiv waren. Sie sind zehn, 14 und 16 Jahre älter als ich. Ich wollte auch nie klassische Opernsängerin werden. Ich wollte nur singen, Chorsingen vor allem. Ich dachte immer, ich bin okay so, wie ich bin.
RONDO: Kein Drang nach Selbstverwirklichung?
von Otter: Nein. Ich lag nie auf einem Psychologensofa. Und lese keine Bücher über Selbstfindung, wie es viele Sänger tun, weil sie über das viele Reisen so unglücklich sind und darüber, dass man nur schwer eine Familie zusammenhalten kann. Ich hatte eine beschützte Kindheit als Nesthäkchen und wurde mit einem Silberlöffel im Mund geboren.
RONDO: Vielen Sängerinnen fällt heutzutage der Aufbau eines Images nicht leicht.
von Otter: Jeder soll sein, wie er sich wohlfühlt. Als ich 1987 zum ersten Mal bei der Scala in Turnschuhen und Jogginghosen durch den Künstlereingang kam, hat mich der Pförtner angeschaut, als ob ich wirklich von der Straße komme. Die italienischen Sängerinnen trugen immer Pelzjacken und Perlen.
RONDO: Ihre Karriere besticht durch große Vielseitigkeit. Das geht so weit, dass es einfacher ist zu fragen, was Sie nicht singen?
von Otter: Ja, allerdings ist die Antwort gleichfalls einfach: Belcanto.
RONDO: Als Sängerin sind Sie immer einem Schlichtheitsideal gefolgt.
von Otter: Ich fand Vibrato hässlich, künstlich und unehrlich. Dagegen mochte ich Popsängerinnen mit eher leichten Stimmen. Und Julie Andrews! Unter den klassischen Sängerinnen habe ich Lisa Otto sehr gemocht. Ich wollte überhaupt Sopran singen. Aber es hat dauernd wehgetan. Manche sagen heute noch, ich sei nur eine feige Sopranistin. Da ist etwas Wahres dran.
Robert Fraunholzer, 29.03.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2009
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