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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Marco Borggreve

Andreas Scholl

Mutterherz, Mutterschmerz

Auf ihrem neuen Album beschäftigen sich der Countertenor und die Accademia Bizantina mit Musik rund um die heilige Jungfrau Maria.

Stellen wir uns vor, wir säßen in der Uraufführung von Nicola Porporas Oratorium „ll trionfo della Divina Giustizia ne’ tormenti e morte di Gesù Cristo“ im Jahr 1716. Vermutlich wären wir verblüfft, in diesem geistlichen Spektakel selbst die Rolle der heiligen Jungfrau Maria von einem Mann besetzt zu sehen. Ausgerechnet: die Mutter aller Mütter! Was uns exzentrisch erscheinen mag, entspricht in Wirklichkeit gängigen Aufführungsgepflogenheiten des Barocks. Da der Vatikan Gesangsauftritte von Frauen in Kirchenräumen untersagte (und ihr Part ja übernommen werden musste), setzte man Kastraten an ihre Stelle, die in Klang und Ambitus der weiblichen Stimme näherkamen als ein Tenor oder Bass. Als Countertenor ist Andreas Scholl so etwas wie ein Nachfahre der Kastraten. Auch er ist zu Beginn seines neuen Albums als Mutter Gottes zu hören, die im Porpora-Oratorium den Leidensweg ihres Sohnes begleitet. Ihr zutiefst menschlicher Schmerz und ihre Verzweiflung stehen im krassen Gegensatz zur „Divina Giustizia“, der göttlichen Gerechtigkeit, die ungerührt über das Passionsgeschehen wacht.
Mit den zwei Marien-Arien Porporas hat Scholl der Produktion, seinem Debüt bei seinem neuen französischen Label, einen ebenso aufwühlenden wie wegweisenden Einstieg gegeben. Schon der Titel des Albums – „invocazioni mariane“ – verrät, dass sich hier alles um Maria, die weibliche Hauptfigur der katholischen Glaubenslehre, dreht. Selbst in einer katholischen Gegend aufgewachsen, im schönen Rheingau, wo seine Gesangskarriere bei den Kiedricher Chorbuben begann, weiß Andreas Scholl um die besondere Anziehungskraft der Erzheiligen. „Jeder von uns hat seine eigenen Erfahrungen mit mütterlicher Liebe gemacht“, sagt er, „und durch die Ängste und Sorgen, die sie als Mutter Jesu Christi durchlitten hat, ist Maria natürlich zum Inbegriff dieser Erfahrung geworden.“ Das theologische Konstrukt, das die Kirche im Laufe der Zeit um sie gesponnen hat, verleiht ihr einerseits einen fast gottgleichen Status; auf der anderen Seite gibt es kaum eine Heilige, die zugänglicher und näher bei den Menschen wäre als sie, die so viel menschliches Leid erdulden musste. „Diese Gefühle sind so universell, so unabhängig von jeder Geschlechtszugehörigkeit, dass ich mich als Mann in diese Rolle hineinversetzen kann, ohne mir komisch dabei vorzukommen.“ Im Laufe des Albums übernimmt Andreas Scholl den Part der Gottesmutter auch in zwei weiteren Arien, in Leonardo Vincis sonst nicht näher betiteltem „Oratorio a quattro voci“.

Zu Füßen des Kreuzes

Jedoch würde das Album zu Unrecht „invocazioni mariane“ (= Marienanrufungen) heißen, wenn das Programm allein aus der Perspektive Marias erzählt werden würde. Die Anrufung erfolgt zunächst im berühmten Text des „Salve Regina“, ein seit dem Mittelalter verbreiteter Hymnus, der hier in der Vertonung Pasquale Anfossis zu hören ist. Zwei Generationen nach Porpora und Vinci zur Welt gekommen, zählt er wie seine beiden Komponistenkollegen zur Neapolitanischen Schule, die im 18. Jahrhundert die Welt der Oper (und der Vokalmusik insgesamt) revolutionierte. Ihr entstammen zwei weitere Komponisten, die allerdings mit rein in­strumentalen Werken auf dem Album zu hören sind: der wenig bekannte Angelo Ragazzi und der umso berühmtere Giovanni Battista Pergolesi. Gewissermaßen als Intermezzo zwischen den dramatisch aufgeladenen Vokalteilen ertönt sein Violinkonzert in B-Dur, mit Alessandro Tampieri als Solisten, der auch die Leitung der begleitenden Accademia Bizantina übernimmt: Andreas Scholl freut sich sehr, das Barockorchester auch diesmal wieder an seiner Seite zu haben, das seit rund 20 Jahren zu seinen wichtigsten musikalischen Weggefährten gehört und schon an vorangegangenen Aufnahmeprojekten beteiligt war.
Beim Fokus auf Maria hätte man im Falle Pergolesis wohl auf sein mit Abstand berühmtestes geistliches Werk getippt: das „Stabat Mater“ aus dem Jahr 1736. Der Text dazu gehört wie das „Salve Regina“ zu den großen Mariendichtungen des Hochmittelalters und erzählt ebenso ausdrucksvoll wie kontemplativ vom Schmerz der Gottesmutter beim Anblick ihres gekreuzigten Sohnes. Unzählige berühmte Komponisten haben ihn in Musik gesetzt, doch unter all den prominenten Vertonungen hat sich Andreas Scholl für eine entschieden, die ihm besonders am Herzen liegt. „Vivaldis ‚Stabat Mater‘ singe ich nun schon seit rund 30 Jahren“, sagt der Countertenor. Auch im Aufnahmestudio: Eine frühe Aufnahme des 1712 entstandenen Stücks mit dem Ensemble 415 erschien im Jahr 1995. „Ich würde zwar nicht sagen, dass dieses ‚Stabat Mater‘ im Zentrum des Albums steht, aber es war schon so etwas wie der Grundbaustein für das gesamte Programm.“ Vertrautheit und ein starker persönlicher Bezug sind für Andreas Scholl dabei kein Anlass, ein Stück wie dieses mal eben „locker aus den Hüften“ einzuspielen. „Man verändert sich im Laufe der Zeit, auch stimmlich, und so ein Werk wächst auch mit einem mit“, sagt Scholl. „Die hohen Partien sind etwas anstrengender geworden, dafür ist die Tiefe nun müheloser, was Vivaldis ‚Stabat Mater‘ zugutekommt.“ Das Album und seine Thematik boten ihm willkommene Gelegenheit, Vivaldis Opus auf Basis seiner stimmlichen Entwicklung von heute neu zu befragen. Das Ergebnis ist seit Anfang März im Handel erhältlich.

Neu erschienen:

Nicola Antionio Porpora, Leonardo Vinci, Giovanni Battista Pergolesi, Antonio Vivaldi

„invocazioni mariane“

Andreas Scholl, Accademia Bizantina, Alessandro Tampieri

naïve-Indigo/375 Media

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Stephan Schwarz-Peters, 23.03.2024, RONDO Ausgabe 2 / 2024



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