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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Cathrine Dokken

Ragnhild Hemsing

Balladen auf der Hardangerfiedel

Auf ihrem neuen Album beleuchtet die Violinistin auf zeitgemäße Weise Volksmusikschätze ihrer norwegischen Heimat.

Dank Ragnhild Hemsing muss die Hardangerfiedel in Deutschland nicht mehr vorgestellt werden: Die norwegische Musikerin hat das althergebrachte Volksmusikinstrument ihres Heimatlandes nicht nur im Konzert, sondern bislang auch auf drei Alben für ihr Label groß in Szene gesetzt, jeweils im Wechselspiel mit der Geige. Auf ihrem neuen Album steht das um zusätzliche Resonanzsaiten erweiterte, prachtvoll verzierte Instrument mit seinem feinen, silbrigen Klang nun allein im Vordergrund. „VETRA“ lautet sein Titel, was übersetzt „Winter“ bedeutet – und zwar im Plural. „Ich habe bewusst das Wort im Dialekt meiner Heimatregion Valdres gewählt“, sagt Ragnhild Hemsing, die ihre Hörerschaft auf eine Reise in diese abgeschiedene, raue und gleichfalls wildromantische Gegend im Süden Norwegens mitnimmt. Der Winter ist hier nicht nur eine charakteristische Jahreszeit, sondern auch eine Projektionsfläche für die ruhige, mitunter melancholische, oft aber auch heimelige und mystische Stimmung des Albums.
Wie viele Landschaften in Norwegen hat auch Valdres eine eigene Volksmusiktradition. Mit der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts begann man hier, wie allerorten, mit der systematischen Erfassung und Aufzeichnung überlieferter Melodien. Die Federführung übernahm dabei der Komponist und Musikwissenschaftler Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887), der von Tal zu Tal zog, um den Liedern und Tänzen der Bewohner zu lauschen. Interessanterweise traf er dabei auch auf den Urururgroßvater von Ragnhild Hemsing, der ihm die Melodie des Kirchenlieds „Das achte Gebot vom Sinai“ vorsang. Es gehörte zu den 86 Kirchenliedern und 83 weiteren Melodien aus Valdres, die er später in seine 1863 abgeschlossene zwölfbändige Sammlung „Ældre og nyere Norske fjeldmelodier“ aufnahm.
Und die wiederum diente 160 Jahre später Ragnhild Hemsing als Vorlage für ihr neues Album. 14 Stücke hat sie aus Lindemans Kompendium auswählt und zusammen mit einem siebenköpfigen Ensemble einspielt. An die Seite der Hardangerfiedel gesellen sich dabei bekannte Instrumente wie tiefe Streicher, Trompete oder Schlaginstrumente, aber auch die ebenfalls in der norwegischen Volksmusik beheimatete langgestreckte Griffbrettzither Langeleik.
Die Lieder, die Ragnhild Hemsing und ihre Mitspieler sowohl in fest notierter als auch in improvisierter Form zu einer Art Zyklus fügen, widmen sich den unterschiedlichsten Themen. Bei vielen der Melodien weiß man heute nicht mehr, ob sie ursprünglich aus der weltlichen oder der kirchlichen Sphäre stammen, manchmal tauschten sie auch ihre Rolle im Laufe der Zeit. Eine Besonderheit stellen die fünf so genannten Slåtter dar, in denen auf balladenhafte Weise alte Mythen und Sagen besungen werden. „Ich sehe mich als Teil einer Tradition“, sagt Ragnhild Hemsing. „Diese möchte ich aber nicht nur weiterführen, sondern auch immer wieder erneuern.“ Auf „Vetra“ hat sie nun den gelungenen Versuch unternommen, uralten Klängen neuen Atem einzuhauchen, Geschichten aus fernen Jahrhunderten auf zeitgemäße Weise zu erzählen. Der Schatz, auf den sie dabei zurückgegriffen hat, würde noch Stoff für Dutzende weitere Alben liefern.

Neu erschienen:

VETRA

Ragnhild Hemsing, Mathias Eick, Terje Isungset, Ole & Knut Aastad Braten, Frida Fredrikke Waaler Waervagen, Nikolai Matthews

Berlin Classics/Edel

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Stephan Schwarz-Peters, 25.11.2023, RONDO Ausgabe 6 / 2023



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