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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

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am 27.04.2024



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(c) PR Alondra de la Parra

Alondra de la Parra

Eine Musikerin mit vielen Gesichtern

Als kreatives Ideenbündel denkt die mexikanische Dirigentin weit über ihren Beruf hinaus.

Was Alondra de la Parra angeht, kann man wirklich von einer internationalen Karriere sprechen. Zur Welt gekommen in New York, studierte die mexikanische Dirigentin zunächst in ihrem Heimatland und später an der Manhattan School of Music. Mit 23 gründete sie ihr eigenes Orchester, dirigierte im Laufe der Zeit große und bedeutende Klangkörper in den USA, Südamerika und Europa und trat schließlich 2017 in „Down Under“ den Musikdirektorinnenposten beim Queensland Symphony Orchestra an. Von dort aus gesehen ans andere Ende der Welt gelangte sie 2019 durch ihren Umzug nach Berlin – eine Stadt, die aufgrund ihrer Lage beste Standortvoraussetzungen für eine umtriebige Musikerin wie Alondra de la Parra bietet. Denn abseits der kulturellen Zentren der Welt in Australien – „das hätte ich als alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern schon organisatorisch nicht hinbekommen“, so die Dirigentin. An ihrem neuen Wohnort in Mitte ist das deutlich einfacher, wenngleich ihre erste Zeit in Berlin von der Corona-Pandemie überschattet wurde. Doch obwohl zeitweise alle Dirigierverpflichtungen wegbrachen, fühlte sie sich keineswegs zum Nichtstun verdammt.
„Die Ruhepause hat mir Gelegenheit gegeben, viel über Projekte nachzudenken, die mich schon länger beschäftigt haben“, sagt Alondra de la Parra. Tatsächlich konnte sie in den vergangenen Jahren einige außergewöhnliche Ideen finalisieren. Schon zuvor hatte sie sich intensive Gedanken über ihre berufliche Stellung als Dirigentin gemacht und war zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre schöpferische Kraft nicht allein in der Aufführung von Orchestermusik liegt. „Ich bin Dirigentin geworden, weil ich im Lauf meiner Ausbildung gemerkt habe, dass ich mich so am besten ausdrücken kann“, sagt sie. „Aber ich komme aus einer Familie, in der jeder mit Geschichtenerzählen zu tun hat, angefangen bei meinen Großeltern, die Schriftsteller waren. Was sie machen, möchte ich ebenfalls tun: Geschichten erzählen.“

Bereits vor einiger Zeit hatte sie den Plan gefasst, ein eigenes Festival in ihrem Heimatland Mexiko auf die Beine zu stellen, und zwar „am schönsten Ort der Welt“. Eingebettet in die tropische Landschaft der Halbinsel Yucatán erlebte im Sommer 2022 das Paax GNP Festival seinen ersten Auftritt, das jährlich stattfinden wird, in diesem Jahr vom 29. Juni bis zum 8. Juli. Das Wort Paax erinnert dabei nicht zufällig an das lateinische Wort für Frieden, auch wenn es in der Sprache des mexikanischen Ureinwohnervolks der Maya nichts anderes als „Musik“ bedeutet. „Neben der Organisation dirigiere ich die Orchesterkonzerte, die Dramaturgie für die Programme habe ich selbst entwickelt“, sagt die Festivalmacherin. Schon mehrfach hatte sie ein geschicktes Händchen dafür bewiesen, wie man große Talente zusammenbringt. Bestes Beispiel ist das „Hausorchester“ des Paax GNP Festivals, das „Impossible Orchestra“, das Alondra de la Parra ebenfalls in Pandemiezeiten ins Leben gerufen hat. Mit hochrangigen Solisten aus aller Welt besetzt, tritt es gemeinsam für den guten Zweck auf und unterstützt gemeinnützige Stiftungen bei ihrem Einsatz für mexikanische Frauen und Kinder.
Bei den insgesamt sechs Festival-Auftritten von The Impossible Orchestra gibt es neben sorgfältig abgestimmter philharmonischer Kost auch Abstecher in die Welt des Tanzes, nicht zuletzt dank der Mitwirkung des Choreografen-in-Residence Christopher Wheeldon bei einem Programm mit Werken von Tschaikowski, Gershwin und zeitgenössischen Komponisten, aber auch bei einem dem Tango sowie verwandten südamerikanischen Tänzen gewidmeten Abend. Ein anderer Schwerpunkt des Festivals widmet sich dem „Doppelleben“ der eingeladenen Musiker: In der Programmschiene „Paax Darkside“ zeigen sie sich mit ungewöhnlichen musikalischen Vorlieben, die sie neben ihren „klassischen“ beruflichen Schwerpunkten pflegen. Bei der Gelegenheit tritt eine gute Freundin und künstlerische Weggefährtin Alondra de la Parras auf die Bühne, die mexikanische Clownin Gabriela Muñoz alias Chula, die bereits beim Festival-Debüt im vergangenen Jahr zu sehen war: in der Uraufführung eines szenischen Abends mit dem Titel „The Silence of Sound“ – ebenfalls ein Herzensprojekt der Dirigentin.
„‚The Silence of Sound‘ hat mich vor sieben Jahren erstmals beschäftigt“, erzählt Alondra de la Parra. Grundsätzlich hatte sie sich die Frage gestellt, wie sie die Musik, die sie selbst so sehr liebt, mit anderen teilen kann und Menschen, die von Haus aus keinen Zugang dazu haben, für sie zu begeistern. Herausgekommen ist eine mehr als einstündige Performance, die sich eindeutigen Zuschreibungen entzieht, weder ein Schauspiel ohne Worte noch ein szenisches Konzert und schon gar keine Oper ist, und dennoch Elemente all dieser Disziplinen in sich trägt. Neben der sehr persönlichen ausgewählten, von Alondra de la Parra währen der Aufführung dirigierten Orchesterstücke – darunter Werke von Brahms, Debussy und Strawinski – ist es das Spiel der Hauptdarstellerin, die „The Silence of Sound“ zum Leben erweckt. „Meine Vision war es, den Weg einer Figur nachzuzeichnen, die aus der totalen Stille kommt und durch die Musik befreit wird“, sagt Alondra de la Parra, die das Stück durchaus in der Nachfolge berühmter „Education“-Klassiker wie Prokofjews „Peter und der Wolf“ oder Brittens „Young Person’s Guide To The Orchestra“ sieht – nur eben mit zeitgemäßen Mitteln. Hierfür sorgt auch die Mitarbeit der Kostümdesignerin Rebekka Dornhege Reyes sowie der Regisseurin und Videogestalterin Mariona Omedes.
Nach der Uraufführung beim Paax GNP Festival tourte das Projekt zunächst durch Mexiko, ehe es bei einer Aufführung in Pamplona den Sprung nach Europa schaffte. Den Einstand in Deutschland wird „The Silence of Sound“ im September in Alondra de la Parras neuer Wahlheimat Berlin feiern, und zwar im Admiralspalast. „Das Konzept ist nicht an bestimmte Personen gebunden“, sagt sie, „weder an das Orchester noch an die Dirigentin oder die Darstellerin. Es soll in Zukunft allen Interessierten offenstehen.“
Längst hat Alondra de la Parra, die bei all ihren Ideen ihren „Kernberuf“ nicht vernachlässigt, vor einigen Monaten etwa mit einem Brahms-Sinfonien-Zyklus mit den Münchner Symphonikern zu hören war und als erste Gastdirigentin des Sinfonieorchesters Mailand derzeit häufig in Italien unterwegs ist, neue Projekte im Kopf. So möchte sie etwa weitere Folgen von „The Silence of Sound“ entwickeln. Zunächst aber steht – noch vor dem Paax GNP Festival – die Aufführung einer weiteren, gemeinsam mit Christopher Wheeldon entwickelten kreativen Schöpfung an: des Balletts „Like Water For Chocolate“ an der New Yorker Met.

Weitere Infos:
www.alondradelaparra.com

Orchester aus Freunden

Wie eine Art Gesamtkunstwerk hat Alondra de la Parra ihr Paax GNP Festival konzipiert und in die malerische Karibiklandschaft Yucatáns eingebettet. Musikalisch im Zentrum steht dabei das ebenfalls von ihr selbst gegründete The Impossible Orchestra, das sich aus herausragenden Musikern wie Maxim Vengerov, Alisa Weilerstein oder Albrecht Mayer zusammensetzt. Neben Konzertsaal-Klassikern von Mozart bis Dvořák präsentiert das ­Festival in seinen Orchester- und Kammermusikkonzerten auch ungewöhnliche Werke zeitgenössischer Komponisten, darunter – gleich zum Auftakt am 29. Juni – das Doppelkonzert „The Journey“ für Klarinette und Violoncello von Paquito D’Rivera.

Stephan Schwarz-Peters, 20.05.2023, RONDO Ausgabe 3 / 2023



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