home

N° 1309
10. - 16.06.2023

nächste Aktualisierung
am 17.06.2023



Startseite · Oper & Konzert · Pasticcio

2019 verabschiedete er sich im Konzert mit den Wiener Philharmonikern vom Pult, nun ist Dirigent Bernard Haitink 92-jährig verstorben © Benedikt Dinkhauser/Wiener Philharmoniker

Pasticcio

Größe statt Glamour

Es gibt Ehen zwischen Orchester und Dirigent, die halten ein Leben lang. Denn selbst wenn man sich offiziell schon wieder getrennt hat, leben solche Verbindungen in den Erinnerungen weiter und weiter. So eine glückliche Liaison bestand zwischen Bernard Haitink und dem Königlichen Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam. Von 1961 bis 1988 leitete der Niederländer als Chefdirigent das Traditionsorchester. Auch auf unzähligen Tonträgern hat dieses Gespann dann besondere Schubkräfte in der Bewertung von Komponisten freigesetzt, die aus dem heutigen Konzertleben überhaupt nicht mehr wegzudenken sind. Die europäische Rehabilitation von Gustav Mahler und Dmitri Schostakowitsch etwa gehen eindeutig auf das gemeinsame Konto. Und neben dem konsequenten Einsatz für die Moderne ermöglichte es nicht zuletzt Haitink mit seinem Gespür für neue Perspektiven auf das altbekannte Repertoire, dass selbst ihm gänzlich entgegengesetzte Charakterköpfe wie Nikolaus Harnoncourt und der junge Simon Rattle in Amsterdam zu Stammgästen werden konnten.
Während somit dieses Top-Orchester nun plötzlich etwa auch Mozart im Sound des 18. Jahrhunderts spielten, hielt Haitink weiterhin am magischen Klang seines Concertgebouw fest, bei dem er selbst einige Jahre als Geiger mitgespielt hatte. Der so gerühmte samtene Klang der Streicher und das goldene Blech ist von ihm konserviert worden. Und die von seinem Vorgänger Eduard van Beinum initiierte Vorliebe für Anton Bruckner hatte dank Haitink weiterhin Bestand.
Diese Ära nimmt natürlich auch den Großteil des 2019 veröffentlichten Bandes „Dirigieren ist ein Rätsel“ ein, in dem Haitink im Gespräch mit Peter Hagmann und Erich Singer auf sein Leben zurückblickte. Und selbstverständlich kommen auch all die anderen wichtigen Karrierestationen zur Sprache; Haitinks Posten als Chef des London Philharmonic Orchestra, als Musikdirektor an der Covent Garden Opera sowie seine (leider allzu kurze) Amtszeit bei der Staatskapelle Dresden. Und trotzdem: wenngleich er darüber hinaus auch als Gastdirigent bei allen großen Orchestern vorbeischaute, blieb er doch bis ins allerhöchste Alter ein uneitler Star. So etwa auch am 6. September 2019, als er im KKL Luzern zusammen mit den Wiener Philharmonikern und Anton Bruckners 7. Sinfonie seinen (vorab angekündigten) Abschied vom Pult nahm. Von diesem historischen Konzert gibt es auch einen Video-Mitschnitt. Ganz zum Schluss wallen und beben die Wiener Philharmoniker noch einmal unnachahmlich klang- und ausdrucksvoll. Nach dem Schlusspunkt dann hält Haitink die heilige Stille sekundenlang aufrecht. Bis langsam der Applaus aufbrandet und sich auch die Mitglieder des Orchesters stehend von einem Musiker verabschieden, der nun im Alter von 92 Jahren verstorben ist.

Guido Fischer



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Testgelände

Weihnachten

Ganz schön schräg

Für Faule, für Experimentierfreudige und selbst für Festmuffel – bei den Weihnachtsalben ist […]
zum Artikel

Gefragt

Seong-Jin Cho

Zarte Saiten

Nein, kein gedrillter Wettbewerbsgewinner aus Asien: Der Koreaner punktet auf seinem neuen […]
zum Artikel

Gefragt

Isaac Stern

Der Jahrhundert-Geiger

Vor hundert Jahren, am 21. Juli 1920, wurde der amerikanische Geiger Isaac Stern geboren. Eine […]
zum Artikel


CD zum Sonntag

Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion

Externer Inhalt - Spotify

An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.

Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.

Dreizehn Jahre war Roger Norrington Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (vor der Fusion mit dem Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zum SWR Symphonieorchester im Jahr 2016) und hat mit dem sogenannten „Stuttgart Sound“ weltweit für Furore gesorgt. Dabei handelt es sich um eine gelungene Synthese aus historisch informierter Aufführungspraxis und den Klangmöglichkeiten eines modernen Orchesters. Egal ob es sich um Werke von Mozart, Haydn, Brahms oder Beethoven dreht, […] mehr


Abo

Top