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Eigentlich erstaunlich, dass sich Weihnachtsalben offenbar noch immer gut verkaufen, obwohl sie um so ein enges Repertoire kreisen (wenn man es denn so möchte). Beim ersten Mal „Last Christmas“ im November hält man sich vielleicht noch die Ohren zu. Doch seien wir ehrlich: Spätestens nachdem Ende November der erste Schnee gefallen ist, gehört Musik neben Kerzen zu den besten Dekorationseinfällen, um die eigenen vier Wände wohnlich-weihnachtlich erstrahlen zu lassen. Ganz gleich, welchen Geschmack man hat.
Für traditionelle Gemüter gibt es dieses Jahr die Wahl – lutherisch oder anglikanisch? Anders gesagt: Die wunderbar farbig besetzte Barockweihnacht des Margaretha Consort oder das festliche Jubiläumsalbum des Choir of King’s College Cambridge (siehe auch S. 26)? Fast die gleichen Werke wie das Margaretha Consort präsentierte Paul McCreesh mit der Christmette von Praetorius vor zwanzig Jahren auf CD – und dieses Jahr erstmals auch auf DVD (als Mitschnitt aus Versailles). Und auch Philippe Herreweghe kommt uns in Erinnerung, mit einer Neuauflage der Leipziger Weihnachtskantaten von Bach in einer stupenden, festlichen Interpretation. An ein Weihnachtsoratorium hat sich dieses Jahr überhaupt nur Daniela Dolci mit Musica Fiorita getraut, leider überzeugen nicht alle Solisten.
Und wenn man mehr über den Tellerrand schauen möchte? Am französischen Repertoire des Fin de siècle wie dem „Cantique de Noël“ haben sich zwei College-Chöre leider verhoben. Dass man den Belcanto der Oper mit der Bibel mühelos in Einklang bringen kann, zeigt der legendäre Kastratenlehrer Nicola Porpora mit seinem „Weihnachtsoratorium“ (Kammerorchester Basel, Minasi). Die Wurzel zart der Weihnachtsmusik legen hingegen Sopranistin Arianna Savall und Petter Udland Johansen von Hirundo Maris mit weltmusikalisch angehauchtem Harfenspiel frei – eine erfrischende, ungewöhnliche Weihnachtsplatte!
Manche Leute wollen sich für Neuentdeckungen aber nicht von den Plätzchen erheben. Und selbst hier kann geholfen werden! Faule können dieses Jahr auf gleich drei so genannte „Playlists“ zurückgreifen, um nicht selbst auszusuchen (früher sagte man dazu „Sampler“, als CDs noch die einzige Erscheinungsform waren). Ob in stiller Vorfreude, festlicher Weihnachtszeit selbst – oder als nahtlose Fortsetzung der Weihnachtsfilme im Fernsehen – erhitzen, umrühren, fertig!
Da gruselt es den Puristen. Der ist auch besser aufgehoben bei solch lupenreinem Chorgesang wie dem der Ora Singers unter Suzi Digby. Ihr phänomenales Weihnachtsalbum (siehe auch S. 22) wagt den Spagat zwischen Renaissance und Neuer Musik. Zum Schluss antwortet Morten Lauridsen auf William Byrds Motette über denselben Text: O Magnum Mysterium. Nein, dieses Geheimnis lässt sich nicht erschöpfend ausloten.
Aber zünftig feiern: Zum bereits sechsten Mal lädt „Mister Red Horn“ Nils Landgren seine (skandinavischen) Freunde zur intim musizierten – und gerade deshalb so stimmungsvollen Jazz-Weihnacht ein. Noch keine Lust auf nordisches Schneetreiben? Die Klazz Brothers haben noch Plätze frei bei der Neuauflage ihres absolut verlockenden Abstechers nach Kuba – da trägt der Weihnachtsbaum Kokosnüsse statt Kugeln.
Dabei müsste man eigentlich gar nicht weit reisen, um das Fest gehörig gegen den Strich zu bürsten – der hiesige Plattenmarkt hat genügend Schräges aufzubieten, um die Laune zu heben – manches freiwillig, manches davon unfreiwillig.
Zu unseren Lieblingen gehört da seit drei Jahren der Chor des Bayerischen Rundfunks unter seinem Chef Howard Arman. Der hat ein Händchen für hochkalorische Arrangements und legt zur Feier noch ein Schippchen extra drauf: Nach dem erfolgreichen Weihnachts-Überraschungsalbum von 2016 und den internationalen Weihnachtsliedern letztes Jahr heißt es nun: „More Christmas Surprises“. Aber gerne doch! Dazu gehören nicht nur amerikanische Klassiker wie „I am The Happiest Christmas Tree“ oder „Winter Wonderland“, sondern auch eine „Happy Lisztmas“ getaufte Stilparaphrase von Arman himself. Wenn sich dann der hellwache Chor in die Streicherseide des Münchner Rundfunkorchesters wandet und Tenor Pavol Breslik das Ganze mit Strahlkraft krönt, fühlt sich das an wie ein Sechser im Lotto an Heiligabend. Große Unterhaltung – und große Kunst.
Man könnte meinen, Rolando Villazón wollte in eine ähnliche Richtung: Es wird gut geheizt und dick dekoriert – aber irgendwie fehlt dem Album der Humor. Dazu verengt sich Villazóns Stimme bei steigender Dynamik sofort ins Froschige. Nur was für eingefleischte Fans!
Ebenso kreativ wie die Bayern, dabei in ganz andere Richtung zielt Daniel Behle. Nach Operettenund Hamburg-Hommage liefert er nun als drittes seine persönliche Liebeserklärung an Weihnachten ab. Und was für eine! Behle hat als Tenor, Arrangeur und Komponist, todesmutig begleitet vom Oliver Schnyder Trio, ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das fast alle Stile kreuzt. Manchmal sogar mitten im Lied. Und er offenbart, das bei voller Strophenzahl manches Weihnachtslied wie „Ihr Kinderlein, kommet“ recht bittere Untertöne kennt. Das Hakenschlagen ist sein Thema: Bei diesem Album muss man schwelgen, schmachten, schlucken!
Hier könnten wir enden, gäbe es nicht noch einen Überraschungsgast: „Peter Schreier singt Weihnachtslieder“, erneut veröffentlicht, lehrt uns Demut. Denn es zeigt – selbst nach Behles Kur de Force – welch musikalischen Aplomb ein Sänger- Weihnachtsalbum damals haben konnte.
Sony
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Berlin Classics/Edel
hm
Naxos
dhm/Sony
Spectacles/Note 1
Sony
ACT/Edel
Sony
LSO live/Note 1
Naxos
Sony
Delphian/Naxos
Pan Classics/Note 1
DG/Universal
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