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(c) Nick Rutter
Die Dame hat es faustdick hinter den geschulten Ohren. Suzi Digby, der britischen Chor-Lady, sind ihre 60 Lebensjahre nicht anzusehen. Für den Rolling-Stones-Song „Let It Bleed“ („Lass es bluten“) fungierte sie ganze 72 Mal als Chordirektorin mit der Band auf Tour. „Ich weiß auch nicht, wie die auf mich gekommen waren“, scherzt sie. Klingt aber doch stolz dabei. Sie ist eine Grande Dame des britischen Chorwesens.
Diverse Chöre wurden von ihr gegründet. Ihr jüngster Spross, die vor drei Jahren ins Leben gerufenen „ORA Singers“, wurden soeben mit einem „Opus Klassik“ ausgezeichnet. Benannt hat Digby das Ensemble nach dem Pop- Star und Model Rita Ora, die als Flüchtling aus dem Kosovo nach Großbritannien kam. „Ich zermarterte mir das Hirn auf der Suche nach einem Namen“, so Digby. Da gab ihr Ehemann ihr den Rat: Halt einfach die Augen offen, dann wirst du schon was finden! „Ich sah mir gerade eine Ausgabe der ‚Vogue‘ an. Ein Modemagazin!“, so Digby. Da war besagte Rita Ora auf dem Cover. „Ich dachte mir: gar nicht schlecht. Dabei ist es geblieben.“
Man singt Renaissance und Gegenwart. „Schon bei William Byrd, Thomas Tallis und Orlando Gibbons“, so Digby, „gab es einen sehr freien Umgang mit Tonalität und Chromatik“. Die Ähnlichkeiten im Vergleich zu heute seien erstaunlich. „Außerdem denke ich, dass wir gegenwärtig in einem goldenen Zeitalter der Chormusik leben.“ Beide Epochen: elisabethanische Zeitalter. „Inzwischen haben auch viele Komponisten wieder genug Selbstbewusstsein, um nicht nur experimentell zu schreiben. Wir müssen sie unterstützen.“
Der Kammerchor besteht aus 18 professionellen Sängern. „Damit kommt man ideal zurecht.“ Nur in London könne sie auf eine so reichhaltige Szene zurückgreifen, um im Bedarfsfall zu erweitern. „Auch in Frankreich gab es einmal eine so reiche Chortradition wie in Großbritannien. Aber nur bis zur Revolution. Da ist sie abgebrochen.“ Barock-Musik meidet man. „Sie ist zu teuer.“ Einen Stil hat man dennoch. „Unser Sound ist von den tiefen Registern her bestimmt. Wir denken von unten!“, so Digby. „Der Bass liefert das Fundament und stiftet den Zusammenklang.“ Das läge vielleicht sogar an persönlichen Vorlieben. „Ich mag nicht von Obertönen umgeblasen werden.“
Etliche Stamm-Sänger treten auch im Monteverdi Choir von John Eliot Gardiner, bei den Tallis Scholars oder bei Harry Christophers’ The Sixteen auf. „Wir sind primär ein Schallplatten-Chor, und geben verhältnismäßig wenige Konzerte. In nächster Zeit sind es drei.“ Für kommende Saison ist eine Tour nach Deutschland geplant, unter anderem nach Regensburg. Als Präsident des Chors fungiert der Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry. „Ein guter Freund. Und er liebt die Musik.“ Das soll neues Publikum bringen. „Unser Problem besteht darin, dass unser Publikum zwar sehr leidenschaftlich ist und uns überallhin folgt. Doch das sind ‚choral nerds‘ wie wir: Chor- Freaks!“ Deswegen wolle man gern „ein paar neue Freaks“ hinzuwerben. Im Niveau runtergehen müsse sie dafür nicht. „Grundsätzlich gilt: Niemals die Hosen runterlassen, um das Niveau zu heben!“
hm
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Digby hat sich vorgenommen, „einhundert Werke bei einhundert Komponisten“ in Auftrag zu geben. „Ungefähr vierzig haben wir schon.“ Jeder Auftrag besteht darin, einem Renaissance-Stück ein brandneues Werk gegenüberzustellen – wie auch immer der Komponist diese Aufgabe lösen möchte. „Das Schöne ist, dass die Werke der Renaissance fast so unbekannt sind wie die Werke, die zur Uraufführung kommen.“ Von James MacMillan, der für sie „eines der besten Werke geschrieben hat, das ich kenne“, würde sie sogar ein zweites Stück kaufen.
Wenn man im Konzert zwischen Renaissance und Gegenwart durcheinanderkomme und beide Stile nicht mehr auseinanderhalten kann, dann sei ihr Ziel erreicht. „Ich halte das für ein Kompliment! Es zeigt, dass gute Musik immer zeitlos bleibt.“ Aktuell hat man ein Weihnachtsalbum im Sortiment. „Es ist unsere fünfte CD, kommt also nicht zu früh. Ich bin besonders glücklich, dass uns John Rutter, der ‚King of Carols‘, einen Song mit dem Titel ‚Suzi’s Carol‘ komponiert hat. Die Gage hat er zurückgewiesen.“
Damit ist Suzi ein Platz in der Musikgeschichte sicher. Mehr sogar als durch den „Opus Klassik“, für den sie im deutschen Fernsehen in die Kamera winken durfte. „Der Preis hat sich noch nicht bis nach Großbritannien herumgesprochen“, gibt Digby zu. „Macht doch nichts! Wir sagen einfach, er ist der beste. Stimmt das nicht?!“
Unter den zehn besten Chören, die das Magazin „Gramophone“ 2011 kürte, wurden die sechs ersten Plätze von britischen Ensembles besetzt (darunter der Chor des Trinity College, Cambridge und der Wells Cathedral Choir). Das spricht für eine gewisse Heimatfixiertheit der Briten, und für die feste Verwurzelung britischer Musik im Chorwesen überhaupt. Man singt gern – in Gruppen. Und zwar stilistisch so einheitlich, dass John Eliot Gardiner seinen Monteverdi Choir einst nach dem italienischen Komponisten benannte, weil dieser verlangt, „was uns englischen Musikern“, so Gardiner, „schwerfällt: Leidenschaft, Vielfarbigkeit und eine Menschlichkeit der Aussprache“. Schöner aber als die Briten singt niemand.
Robert Fraunholzer, 15.12.2018, RONDO Ausgabe 6 / 2018
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