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(c) Robert Ascroft
Wayne Shorter hat klare Vorstellungen. Wenn Popstars ihre Fans zum Klatschen mit erhobenen Händen auffordern, „erinnert mich das an den Befehl ‚Hände hoch‘ der Polizei“, moniert er. „Dann sehe ich ein Bild der Sklaven vor mir, die mit Handschellen und Ketten gefesselt waren.“
Dies ist nicht seine Welt, obwohl der Saxofonist 1970 bis 1986 mit der Fusionband Weather Report ebenfalls auf Rockrhythmen setzte und gelegentlich für die Rolling Stones und Carlos Santana ins Studio gegangen war. Seine Klangwelt prägt stattdessen der Traum von Freiheit, spontaner Organisation, Überraschungen und Experimenten. „Darauf muss sich das Publikum einlassen. Es hört Musik, von der wir selbst nicht wissen, dass wir sie machen können.“
Wayne Shorter reifte 1959 bis 1964 als Musical Director von „Art Blakey and The Jazz Messengers“ mit dem Hard Bop. Danach war er 1964 bis 1970 Mitglied im bedeutendsten Quintett des Trompeters Miles Davis; nebenbei hatte er die Freiheit, eigene Platten aufzunehmen. Hier bewegte sich Shorter an den Grenzen des aktuellen Jazz – oder er überschritt sie als Exponent einer neuen Denkweise. So hatte er schon 1965 im 35-minütigen „The All Seeing Eye“ auf die gewohnten Songstrukturen verzichtet, indem sein Septett die Schöpfungsgeschichte mit komponierten Abschnitten und Free-Passagen erlebbar machte. „Wir wissen nicht, was geschehen wird“, stellte er im Booklet fest. „Hätte ER eine Welt ohne Konflikte schaffen wollen, hätte ER es gemacht.“
Aus dieser Einstellung entwickelte sich in den 1970ern seine Hinwendung zum Buddhismus. Dessen kontemplative Grundhaltung erleichterte es ihm, 1985 den Tod seiner vierzehnjährigen Tochter Iska Maria sowie 1996 denjenigen seiner Frau Ana Maria und seiner Nichte Dalila zu verarbeiten, die beim Flugzeugabsturz der TWA 800 starben. „Wir strahlen auf das Leben derer aus, die hier sind. Die beste Art, Ana zu ehren, ist es, der glücklichste Mann auf diesem Erdboden zu werden“, sagte er bei der Trauerfeier. In seinem Gebetsschrein stand damals „Amor Vincit Omnia“, also „Die Liebe siegt über alles“.
Die Achtung vor den Mitmusikern und eine tief gründende Innovationsfreude durchziehen sein ganzes Leben. Er meidet den Begriff „Komposition“, denn sie ist – so seine Definition – ohnehin „nichts anderes als verlangsamte Improvisation.“ Für ihn ist kein Stück jemals fertig. „Ich mag die Idee nicht, dass etwas beginnt und etwas endet. Das Leben ist kein Roman, wo man von einer Seite zur nächsten geht, bis man das Ende erreicht hat. Es geht immer weiter.“
Selbst die vier Orchesterstücke auf dem – anlässlich seines 85. Geburtstags erscheinenden – Album „Emanon“ basieren nicht ausschließlich auf der Partitur von Wayne Shorter. Die Musiker des Orpheus Chamber Orchestra waren bei den Proben aufgefordert, Vorschläge zu machen, die in die Partitur übernommen wurden. Die beiden anderen Platten geben ein Londoner Konzert seines Quartetts wieder. „Wir müssen etwas Geheimnisvolles erzeugen“, beschreibt er das Konzept. „Ein Stück beginnt mit einem ungeplanten Klang. Jeder bringt etwas dazu. Noch gibt es keine erkennbare Richtung. Aber sobald diese Klänge sich vermischen, entsteht aus den Zufällen etwas, das immer klarer wird. Dann gibt es nur noch Musik.“ In diese streuen Shorter, der Pianist Danilo Pérez, der Kontrabassist John Patitucci oder der Schlagzeuger Brian Blade eventuell ein Motiv aus Shorters Kompositionen – oder auch nicht.
Das Ergebnis ist Free Jazz im allerbesten Verständnis. Hier kann das Publikum nicht mitklatschen. Es kann nur nach der anstrengenden Klangreise dankbar applaudieren.
Werner Stiefele, 08.09.2018, RONDO Ausgabe 4 / 2018
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