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(c) Tina Axelsson
Die Frage muss erlaubt sein: Die Trio-Musik des 2008 bei einem Tauchunfall tödlich verunglückten Pianisten Esbjörn Svensson, gespielt von einem 90köpfigen Klangkörper – braucht man das wirklich? Oder handelt es sich bei der „E.S.T. Symphony“, die jetzt nach mehreren Live-Aufführungen in Häusern wie dem Musikverein Wien auf CD erscheint, vielmehr um eine jener Verwertungsketten-Aktionen, bei denen noch das Letzte aus dem Nachlass eines bedeutenden verstorbenen Künstlers herausgepresst werden soll?
Nun, hier zumindest liegt die Sache etwas anders. Zum einen hatte Svensson klar erkennbare klassische Wurzeln – seine Mutter war klassische Pianistin, zum Aufwärmen vor Konzerten spielte er mit Vorliebe Chopin-Etüden, wie sich sein Jugendfreund und Schlagzeuger Magnus Öström erinnert. Zum anderen trug Svensson immer wieder die Idee mit sich herum, sein Trio e.s.t. in größere musikalische Zusammenhänge zu stellen. Schon 2003 hatte er Arrangements für ein Kammerorchester geschrieben, die beim Festival Jazz Baltica gemeinsam mit e.s.t. aufgeführt wurden. Und noch kurz vor seinem Tod, bei der letzten Probe, gingen Svenssons Gedanken in die sinfonische Richtung. „Wir spielten neues Material, und ich sagte zu Esbjörn: Oh, das klingt nach etwas Größerem, wir sollten das vielleicht mit einem Sinfonieorchester machen“, erinnert sich Öström, „er antwortete: Ja, ich habe exakt denselben Gedanken!“
Es mag vielleicht etwas übertrieben sein, von der „E.S.T. Symphony“ als letztem Willen des einflussreichsten europäischen Jazzpianisten der Jahrtausendwende zu sprechen. Und doch ging der schwedische Dirigent und Arrangeur Hans Ek bei seinen Bearbeitungen der e.s.t.-Stücke so sensibel und gewissenhaft vor, als habe ihm Svensson persönlich eingeflüstert, wie man seiner Musik begegnen soll. Letztendlich zeichnet die „E.S.T. Symphony“ exakt das aus, was auch das Trio ausmachte: ein Sinn fürs Poppige, der durch zupackende Improvisationspassagen, elektronische Verfremdungen und Humor austariert wird.
Arrangeur Ek, der mit Svensson schon zu dessen Lebzeiten zusammengearbeitet hatte, konnte in den e.s.t.-Kompositionen viele klassische Anknüpfungspunkte erkennen: „Diese Songs haben großartige melodiöse Ideen, mit langen Bögen. Man merkt, dass sich Esbjörn viel mit Bach und Chopin beschäftigt hat. Ich höre aber auch noch etwas Anderes heraus: den Einfluss des Impressionismus, Ravel, Debussy.“
Den Jazz-Solisten – darunter der Pianist Iiro Rantala, der Saxofonist Marius Neset oder der Pedal- Steel-Gitarrist Johan Lindström – ließ Ek freie Hand. Svenssons Rolle hingegen übertrug der Arrangeur auf das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra. Ek transkribierte dafür Solopassagen des Pianisten und setzte sie für Streicher und Bläser. Es wirkt so, als sei Svensson als Orchester wiedergeboren worden – und grüßt nun freundlich aus einer anderen Sphäre.
Ek, der in der Vergangenheit auch schon orchestrale Arrangements zu Songs von David Bowie oder zu Stücken von DJs wie Aphex Twin oder Skrillex verfasste, sieht sich als Mittler zwischen den Welten. „Nehmen wir zum Beispiel einen großen Popstar wie David Bowie. Er stirbt – und wie gehen wir mit seinem Erbe um? Sollen wir uns jetzt damit zufrieden geben, indem wir sagen: Okay, wir können diese Musik nicht mehr live hören?“, fragt der 56-Jährige. „Große Teile der zeitgenössischen Musik sind extrem eng mit dem Künstler verbunden, der sie aufgeführt hat. Die Frage ist: Hören wir uns jetzt nur noch seine Platten an oder transformieren wir seine Musik in etwas Lebendes? Hier liegt eine große Chance für die Orchester. Sie sollten sich bewusst sein, was die wichtigste Musik heutzutage ist. Da gibt es vieles, das nur darauf wartet, gespielt zu werden.“
Für Öström und den Bassisten Dan Berglund, die beiden Hinterbliebenen von e.s.t., ist die „E.S.T. Symphony“ jedenfalls etwas Besonderes. Lange hatten sie aus Respekt und Trauer nach Svenssons frühem Tod die Finger von den alten Stücken gelassen. „In dieser Hinsicht ist dieses Projekt wirklich fantastisch. Für uns war es einer der besten Wege, diese Musik noch einmal zu spielen“, erklärt Öström, „fast könnte man sagen, dass dieses Orchester immer schon in den Kompositionen verborgen war. Die Songs sind einfach zu schön, als dass man sie in Aktenordnern verstauben lassen sollte.“
ACT/Edel
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Als „Popband, die Jazz spielt“ bezeichnete sich das 1993 gegründete Trio e.s.t. mit dem Pianisten Esbjörn Svensson, Bassisten Dan Berglund und Schlagzeuger Magnus Öström. Die 1999 erschienene CD „From Gagarin‘s Point Of View“ bedeutete den internationalen Durchbruch für die drei Schweden. Mit ihrer Mischung aus eingängigen, aber niemals banalen Melodien, Keith-Jarrett-Empfindsamkeit, verzerrtem Kontrabass und hyperaktivem Schlagzeug eroberten e.s.t. die Rockhallen und auch die USA, wo sie 2005 als erste europäische Band überhaupt das Cover des Magazins „Downbeat“ zierten. Am 14. Juni 2008 starb Svensson bei einem Tauchunfall in den Schären vor Stockholm.
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