(c) Don Hunstein/Sony
Glenn Gould? Nicht schon w i e d e r ! Ich muss gestehen, dass meine erste Reaktion ungläubiges Kopfschütteln war. Seit der großen, weißen Glenn-Gould- Gesamtausgabe der Sony (zwischen 1992 und 1997) hatte und hat es so viele, immer wieder neu zusammengestellte und neu verpackte „Editions“ und „Collections“ gegeben, dass mir wahrlich kein Argument einfiel, all das noch einmal zu veröffentlichen – und dann auch noch zwei Jahre vor dem nächsten Gould-Jubiläum 2017, dem zugleich 85. Geburtstag und 35. Todestag des kanadischen Wunder-Pianisten. Sicher, die letzte Groß-Box – die 80 CDs der „Complete Original Jacket Collection“ (2007) – ist lange vergriffen und wird zu horrenden Preisen gehandelt; aber deswegen muss man doch nicht …
Andererseits: Die Legende lebt, und sie lebt mehr denn je. Als Gould 1982 starb, hatten sich seine sämtlichen Schallplatten weltweit rund 1.250.000 Mal verkauft – im Jahr 2000 hatte allein die späte, 1981 entstandene Aufnahme der „Goldberg-Variationen“ eine Auflage von knapp zwei Millionen Stück erreicht. Im Juli 2015 verzeichnet YouTube „etwa 161.000 Ergebnisse“ für Glenn Gould; und das (nach welchem Algorithmus auch immer) erste Video, „Glenn Gould Plays Bach“ – ein Ausschnitt der zweiten Partita von 1959 – registriert 3.825.163 Aufrufe. Amazon bietet 10.981 Ergebnisse zu Gould an – darunter 6.989 Musik- Downloads –, und Google meldet „ungefähr 8.850.000 Ergebnisse (0,45 Sekunden)“.
Man musste also wohl doch. Und zum Glück hat sich die Sony nicht damit begnügt, die 78 Originalaufnahmen Goulds (mit drei Interview- CDs) für die Columbia einfach nur neu zu verpacken. In mehr als dreijähriger Arbeit hat Andreas K. Meyer die Masterbänder Goulds einer extrem aufwendigen Digitalisierung mit dem hochauflösenden Direct-Stream-Digital- Verfahren (DSD) unterzogen, so dass diese analoge und digitale „Remastered“-Edition tatsächlich eine klangliche Präsenz, Transparenz und Authentizität erreicht, wie sie keine der Vorgänger-Editionen leisten konnte. Zum Abspielen wurden die originalen Studer-Bandmaschinen verwendet, deren Signale über einen Digitalkonverter in das DSD-Format übertragen wurden. „Wie die Restaurierung der Sixtinischen Kapelle den Fresken Michelangelos neues Leben eingehaucht hat, so haben wir versucht, Glenn Goulds Aufnahmen mit neuem Leben zu erfüllen.“
Nun war ja Gould selbst bekanntlich ein ausgefuchster Technik-Freak, und das nicht erst, seit er am 10. April 1964 (nach einem Klavierrecital in Los Angeles) mit 32 Jahren definitiv das Konzertpodium verließ und nur mehr über die Schallplatten-, Rundfunk- und Fernsehstudios mit seinem Publikum kommunizierte. Im Tonstudio – geheizt auf eine Raumtemperatur von 32° Celsius – verspüre er eine „womblike security“, sagte Gould, eine „gebärmutterähnliche Sicherheit“. Die Studios der Columbia und des kanadischen Rundfunks CBC waren seine große Liebe, sein eigentliches Zuhause, sein Spielplatz, sein Laboratorium, seine Heimat, sein Glück: „My idea of happiness is two hundred and fifty days a year in a recording studio.“
Die Tausende und Abertausende von Aufnahme- Takes und -Out-Takes sind das ‚Tagebuch‘ einer künstlerischen Besessenheit: „Ich kann das Studio nicht von meinem persönlichen Leben trennen.“ Insofern ist diese neue, audio- und discophile (und mit einem mehr als 400 Seiten dicken Begleitbuch ausgestattete) Edition dem Genius Glenn Goulds mehr als angemessen. Seine beständige Suche nach dem idealen Klang und dem idealen Take, seine Experimente mit unterschiedlich weit vom Klavier entfernten Mikrofonschleifen (in seiner Aufnahme von Klavierwerken des Finnen Jean Sibelius), seine Leidenschaft für die immer neuen Fortschritte der Aufnahmetechnik und ihres Equipments – kein anderer Klassik- Künstler hat je so sehr das musikalische Kunstwerk „im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hinterfragt und an die Grenzen des in seiner Zeit Möglichen geführt.
Der hohe technische Aufwand wäre freilich müßig gewesen, wenn diese Aufnahmen nicht so unglaublich wären. Jenseits aller pianistischen Perfektion, die kein anderer erreicht hat (oder wohl je erreichen wird), sind Goulds Interpretationen Wegmarken und Meilensteine, an denen man auch noch Jahrzehnte nach ihrem Entstehen nicht vorbeihören kann. Sicher, vieles war und bleibt irritierend, provokant und streitbar – die ersten Sätze aus Mozarts A-Dur-Sonate oder Beethovens „Appassionata“ zum Beispiel –, aber die Hör- und Deutungs-Perspektiven, die Gould bei jedem Werk aufzeigt, sind eben gerade aufgrund ihrer unverwechselbaren Subjektivität immer wieder neu und spannend: keine historischen Aufnahmen, sondern zeitlose Kunstwerke.
Wenn man sich die rasanten Fortschritte der Aufnahme- und Computertechnik in den letzten dreißig Jahren (etwa seit Einführung der Compact Disc) vergegenwärtigt, ist absehbar, dass auch diese Remastered-Edition nicht die letzte sein wird. Und wer weiß: Vielleicht wird es ja eines Tages sogar ein Verfahren geben, das legendäre Mitsingen Goulds aus seinen Aufnahmen herauszufiltern: „Ich kann nicht ohne. Ich wollte, ich könnte es.“ Und keine Sorge: Es ist ja nicht das einzige, was „den größten Pianisten aller Zeiten“ ausmacht, als den ihn 1983 der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard in seinem Glenn-Gould-Roman „Der Untergeher“ beschrieben hat.
Sony
Als Gould in den 1960er Jahren über The Prospects of Recording philosophierte – über „Die Zukunft der Aufnahmetechnik“ –, waren LP, Tonband und Audiokassette die gängigen Trägermedien für Musik. Entsprechend überschaubar waren die Möglichkeiten ihrer Nutzung: „Die verschiedenen Knöpfe und Regler, die einem Hörer heute zu Gebote stehen, sind lediglich primitive Vorrichtungen, verglichen mit den Möglichkeiten der Einflussnahme, über die er eines Tages verfügen wird.“ In der Tat: Natürlich steht die komplette Edition mit ihren 81 CDs auch zum Download bereit, und damit nicht genug. Die beiden Aufnahmen der Goldbergvariationen von 1955 und 1981 – Alpha und Omega der Gould-Diskografie – erscheinen auch in einer audiophilen LP-Version auf 180g-Vinyl. Ab 2. Oktober gibt es die komplette Edition auch nochmal in 24-bit/44.1 kHz High Resolution auf einem USB-Stick mit hochauflösenden FLAC-Audiodateien, 320kbps-mp3-Dateien und dem kompletten Begleitbuch in digitaler Form.
Michael Stegemann, 12.09.2015, RONDO Ausgabe 4 / 2015
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