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Dass ihre Oper über Angela Merkel eines Tages zum Thema in der Tagesschau werden würde, hatte der Neuköllner Oper wohl niemand an der Wiege gesungen. Entstanden ist sie aus einer der zahllosen Off-Theater-Initiativen, die im Biotop Westberlin blühten: 1972 gründete der Kirchenmusiker und Komponist Winfried Radeke einen Kammerchor, aus dem dann 1976 die Neuköllner Oper hervorging. Nachdem sich die Gruppe mit einer bunten Mischung aus neuen Musiktheaterwerken, Kinderstücken und kiezgerecht aufbereiteten Opernausgrabungen einen Namen gemacht hatte, wagte man 1988 mit Unterstützung des Senats den Schritt zur eigenen Spielstätte in einem ehemaligen Ballsaal. Die Wende, die so mancher alteingesessenen Westberliner Kulturinstitution das Aus brachte, gab den Neuköllnern Auftrieb: Frisch aufbereitete Ausgrabungen wie die freche Ost- Operette „Messeschlager Gisela“ wurden zu Gesamtberliner Publikumsrennern; aber auch mit Musicals wie „Das Wunder von Neukölln“ oder der Soap-Operette „Die Krötzkes“ – herben Liebeserklärungen an den prolligen „Problembezirk“ Neukölln – erlangte das Haus Kultstatus. Und 1993 brachte man in Neukölln gar die szenische Uraufführung von E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“ auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Zu verdanken war dies neben Komponisten wie Niclas Ramdohr, Wolfgang Böhmer und Thomas Zaufke nicht zuletzt Peter Lund. Den 1965 geborenen Regisseur und Librettisten hatte Radeke 1990 für sein Haus entdeckt. Zwischen 1996 und 2004 übernahm Lund dann auch faktisch die Leitung im Direktoriumsteam. Als Librettist ist Lund eine Art Woody Allen des deutschen Musiktheaters, der bis heute in großer Regelmäßigkeit unterhaltsame, dramaturgisch brillante Erfolgsmusicals an „seinem“ Haus herausbringt. Wobei sich hinter der unterhaltsamen Fassade oft genialisch genau beobachtete, böse Milieustudien verbergen. Denn ob vor der Clubtoilette, beim Elternabend oder im Heim einer Polit-Talkerin: Lund lässt singen, wo es wirklich weh tut. Und wie alles an der Neuköllner Oper entfalten die Stücke ihre Wirkung nicht nur mit gestandenen Stars, sondern mit ehrgeizigen Künstlern und Nachwuchstalenten, die bereit sind, für 80 Euro Gage am Abend aufzutreten.
Dass jede Produktion gezwungen ist, sich dem eigenen, hochgesteckten Anspruch zu stellen, hat dem Haus bei wechselnden Erfolgen den Titel „dramaturgisch innovativstes Musiktheater Berlins“ eingebracht. Bernhard Glocksin, seit 2004 Lunds Nachfolger im Direktionsteam, hört es gern: „Keine Kunstform wird so unhinterfragt durchgewinkt wie die Oper an staatlichen Bühnen“, sagt er. Während an den großen Häusern die Partitur so gut wie nie angetastet wird, kann sie bei der Neuköllner Oper so selbstverständlich verändert werden wie Regieanweisungen und Libretto. Dies hat zwar auch finanzielle Gründe, aber genau diese Not macht erfinderisch. Die typische Schere zwischen Bühne und Orchestergraben, über die sich das Publikum der großen Häuser oft ärgert, tut sich in der Neuköllner Oper nur selten auf. Wenn etwa die Primadonna in Bizets „Perlenfischern“ in einer Bar auftritt, dann gibt sie die Hits des Stücks auch in spannenden Jazzarrangements zum Besten.
Hohe Ansprüche stellt sich das Haus mit der Volkstheatertradition, wenn es um die Wahl von neuen Opernstoffen geht. Davon zeugt auch die jüngste Auflage des Opernwettbewerbs, den das Haus regelmäßig durchführt. Ernsthaft versucht man sich am großen Boulevarddrama: einem Musiktheaterstück über Rudolph Mooshammer. Komponisten waren aufgerufen, eine 15-minütige Musiktheaterszene auf den dazu bereitgestellten Kurzoperntext von Ralph Hammerthaler zu schreiben. Als Preis winkte der Auftrag, diese Szene zusammen mit dem Librettisten zu einem abendfüllenden Werk auszuarbeiten, das im Mai 2007 an der Neuköllner Oper uraufgeführt werden soll. Ob ein solches Unternehmen gut gehen kann, ohne in billigen Trash auszuarten? Gewinner Bruno Nelissen glaubt es fest. Der 1978 geborene Niederländer konnte sich dem Thema unbefangen nähern – er lernte die schillernde Hauptfigur erst durch die Arbeit an der Oper kennen. Ein Wagnis – aber es könnte genau die richtige Personalentscheidung gewesen sein.
Carsten Niemann, 13.12.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2006
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