Gegenüber des Pariser Konsumtempels „Les Halles“ – aktuell eine einzige Großbaustelle – erhebt sich Saint-Eustache, eine der schönsten Kirchen der Stadt. Hier ließ Mozart seine Mutter bestatten, und im 19. Jahrhundert erbebte das Kirchenschiff unter den Sakralwerken von Hector Berlioz und Franz Liszt. Hier liegt auch ein Komponist des Barock bestattet, den Kollege Claude Debussy einmal als „eines der sichersten Fundamente der Musik“ bezeichnet hat: Jean-Philippe Rameau. Doch selbst solche Plädoyers konnten Rameau lange nicht aus seinem Schattendasein befreien. Sein Grab samt Büste ist weiterhin in einer dunklen Nische von Saint-Eustache versteckt. Und erst im Zuge der gutinformierten, historischen Aufführungspraxis wurden seine Bühnenwerke, seine fünf Tragédies lyriques sowie diversen Ballettopern und Pastoralen peu à peu wiederentdeckt.
Die Gründe, warum der 1683 in Dijon geborene und 1764 im stolzen Alter von 81 Jahren in Paris verstorbene Rameau so lange Zeit eher als Geheimtipp und nicht längst offiziell als Großfürst der französischen Musik gehandelt wurde, sind vielfältig. Sie liegen nicht allein im 19. Jahrhundert, als man ihn in Paris als Repräsentanten des Ancien Régime abstempelte und sich lieber dem Rossini- und Wagner-Fieber hingab. Schon zu seinen Lebzeiten geriet Rameau gleich zwei Mal in das heftige Feuer musikästhetischer Debatten, die seinen Stern langsam verblassen ließen.
Kaum war dem damals bereits 50-jährigen Rameau 1733 mit seinem Opernerstling „Hippolyte et Aricie“ mehr als nur ein Achtungserfolg geglückt, erntete er gleich vehementen Widerspruch. Die Anhänger der „Tragédie lyrique“ warfen ihm Verrat an jener Kunstform vor, die der Leib- und Magenkomponist des Sonnenkönigs, Jean-Baptiste Lully, prachtvoll in Marmor gemeißelt hatte. Als diese Fehde 1752 vom berühmten „Buffonistenstreit“ abgelöst wurde, attackierte man Rameau nun hingegen als Vertreter einer sich in Prunk und Pomp überholt habenden Epoche.
Solche (Fehl-)Urteile sollten lange das Bild von der französischen Barockoper und damit auch von Rameau bestimmen. Aber drei Dirigentengenerationen haben es geschafft, Rameau als einen ganz Großen der Musikgeschichte zu rehabilitieren. Zu den Pionieren gehört natürlich der amerikanische Wahl-Franzose William Christie: Mit seinem Alte Musik- Ensemble Les Arts Florissants hat er Maßstäbe in der Rameau-Renaissance gesetzt, zumal er stets das Moderne, gar Revolutionäre in der Klangsprache genauso zum Funkeln und Fließen gebracht hat wie das Furiose und Freche, das in vielen Bühnenwerken von Rameau eben auch steckt. Christie ist dementsprechend im Jahr, in dem man an den 250. Todestag von Rameau erinnert, allgegenwärtig. In der Box „Jean-Philippe Rameau“ finden sich mit u. a. „Les Indes galantes“ und „Castor et Pollux“ sämtliche Aufnahmen, die Christie zwischen 1981 und 1992 für sein einstiges französisches Label harmonia mundi eingespielt hat. Und in der über doppelt so dicken Box „The Opera Collection“, die mit 13 Gesamteinspielungen aus dem Zeitraum 1974–2002 sowie mit u. a. Harnoncourt, Gardiner und Minkowski auftrumpft, nimmt der Rameau-Pate Christie den Löwenanteil ein. Sein jüngster Coup ist aber gerade auf DVD erschienen. Es ist der Live-Mitschnitt vom Glyndebourne-Festival 2013, bei dem Christie „Hippolyte et Aricie“ in der Neuinszenierung von Jonathan Kent dirigierte. Für den Drei-Sterne-Ohrenschmaus garantierte der Mann am Pult sowie das Top-Sängerensemble mit Ed Lyon und Christiane Karg in den Titelrollen. Und Regisseur Kent öffnet für diese an Racines „Phaedra” angelehnte, jetzt als schrille Revue daherkommende Lovestory extra einen hochhausgroßen Kühlschrank!
Etwas von diesem bunten Schwung bestimmt auch ein komplettes Werk, mit dem Rameau sich 1735 erstmals mit dem Genre „Opéra- ballet“ beschäftigte und bei dem der Tanz eine exponierte Stellung bildete: „Les Indes galantes“ ist eine Reise in entfernte Länder, etwa nach Persien und Peru. Traumhafte Arienkunst und rhythmisches Feuer wechseln sich in der Gesamteinspielung ab, die Hugo Reyne mit seinem Ensemble La Simphonie du Marais aufgenommen hat. Andererseits ist diese Topqualität nicht verwunderlich: Reyne war über zehn Jahre Flötist in Christies Les Arts Florissants! Mit türkischen Trommeln und fulminanten Tanzeinlagen, wie sie in „Les Indes galantes“ zuhauf anzutreffen sind, hat auch Dirigent Teodor Currentzis seine Rameau- Hommage „The Sound Of Light“ gespickt. Zusammen mit seinem Orchester MusicAeterna präsentiert Currentzis dennoch nicht einfach Highlights aus Rameau- Opern, sondern ein mitreißend tolles Potpourri voller Drive und Grazie.
Einen pianistischen Brückenschlag zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert bietet dagegen die junge, aus Luxemburg stammende Pianistin Cathy Krier. Sie stellt handverlesene, mal brillant vitale, mal nachdenklich intime Pièces de clavecin von Rameau der maschinenhaft-komplexen „Musica Ricercata“ von György Ligeti zur Seite – und dieser imaginäre Dialoge zwischen Franzose und Ungar funktioniert!
Quasi auch aus dem Christie-Stall stammt der amerikanische Cembalist und Dirigent Skip Sempé. Und ihm ist es zu verdanken, dass unter dem Titel „Rameau‘ s Funeral“ endlich die authentische Begräbnismusik zu erleben ist, wie sie beim Trauergottesdienst zu Ehren von Rameau am 27. September 1764 erklungen ist. Im Pariser Oratoire du Louvre wurde die „Messe des Morts“ von Jean Gilles (1668– 1705) in einer Fassung von François Rebel und François Francoeur aufgeführt. Und beide erwiesen Rameau die letzte Ehre, indem sie in das Original-Requiem bekannte Stücke von Rameau einarbeiteten – wie etwa im „Kyrie“ das bewegende „Que tout gémisse“ aus „Castor et Pollux“. Auch jetzt noch bekommt man da eine Gänsehaut, so herzergreifend und wunderschön ist die Verbeugung gelungen …
CAvi/harmonia mundi
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Paradizo/harmonia mundi
MusicAeterna, Teodor Currentzis
„Platée“, DVD/Bluray; Agnew, Delunsch, Beuron, Les Musiciens du Louvre, Minkowski, Arthaus/ Naxos: Ein schon legendärer Mitschnitt der „Platée“-Inszenierung von 2002, bei der Mireille Delunsch als „La Folie“ Maestro Minkowski buchstäblich in die Knie singt!
„Une symphonie imaginaire“, Les Musiciens du Louvre, Minkowski, DG/Universal: Ein reines Orchesterwerk hat Rameau nie komponiert. Minkowski machte aus der Not eine Tugend, pickte sich aus den Opern Intermezzi und Divertissements heraus und veranstaltete damit eine herrliche Orchesterfete!
„A Basket Of Wild Strawberries“, Tzimon Barto, Ondine/Note 1: Tzimon Barto fand zu Rameau über die von Minkowski dirigierte Froschoper „Platée”. Daraufhin spielte er von Rameau 21 Cembalo- Piècen ein und verwandelte einen modernen Flügel in einen einzigen Klangzaubergarten.
Guido Fischer, 13.09.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2014
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