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Das Märchen beginnt im Jahre 1704 in einem italienischen Städtchen. Antonio Stradivari baut in jenem fernen Jahr ein herrliches Instrument, einige Geiger seiner Zeit streichen über seine zarten Saiten aus Darm, aber dann passiert, keiner weiß wie, das Unglück. Die Violine landet auf einem Dachboden und schläft einen ausgiebigen Schlaf. 150 Jahre lang bleibt sie verschollen, dann gelangt sie auf ungewissem Wege nach London, zum Geigenbauer Hill, der sie identifiziert, poliert und ihr den Namen gibt, den sie heute noch trägt: „Dornröschen“.
Szenenwechsel. Berlin, im Sommer 2007, vor der Neuen Nationalgalerie. Eine junge Frau kommt des Weges, in der Linken einen Kasten, dessen Inhalt man unschwer erraten kann. Isabelle Faust heißt die Dame, ist eine exzellente Geigerin (was man weiß), eine profunde Professorin (wie man hört), und gebietet (wir wollen es nicht verschweigen) über ein äußerst charmantes und natürliches Lächeln. Keine Attitüde, kein Parfum, keine Kostümierung.
Gleichviel: „Dornröschen“ spielt eine der Haupt rollen in diesem Leben. Und das kam so: Ein Freund von Isabelle Faust machte sie vor gut zehn Jahren auf die Geige mit diesem wundersamen Namen aufmerksam. „Schau sie Dir an“, sagte er, „sie passt zu Dir“. Sie beschaute das Objekt der Begierde, spielte einige Töne darauf, Bach, Mozart und wohl auch Takte ihres über alle Maßen geliebten Beethovenkonzertes (selbiges hat sie mit verschiedenen Orchestern fabelhaft gespielt und soeben mit den Prager Philharmonikern unter Bělohlávek aufgenommen) und war auf der Stelle angetan. „Da waren ein paar Töne, nur wenige, aber die waren ganz anders, die haben mich getroffen, beeindruckt. Und ich dachte: Da gibt es ein Abenteuer zu erkunden.“
Das Abenteuer aber besaß einen weit profaneren Kontext: Geld. Also machte sie sich auf den Weg, welches zu beschaffen. In Deutschland gibt es dafür Stiftungen. Diese Stiftungen kaufen die Instrumente und überantworten sie prominenten und/oder hochmögenden Künstlern als Leihgabe. Isabelle Faust telefonierte viel, und sie hörte viel Gelächter auf der anderen Seite, als sie den Preis der Geige nannte. Endlich, in ihrer ehemaligen Heimat, wurde sie fündig und glücklich. Ein der Kulturförderung verpflichtetes Bankinstitut, die Landeskreditbank Baden-Württemberg, erwarb „Dornröschen“ und stellte sie ihr zur Verfügung.
Nun macht eine wunderbarwarmtönende Geige, und das ist „Dornröschen“ fürwahr, noch keine Spitzengeigerin. Isabelle Faust jedoch hatte das Glück, zwei Lehrer zu finden, die dafür sorgten. Hier der Romantiker Dénes Zsigmondy, dort der Mann der Aufklärung, Christoph Poppen. Man darf sagen: eine ideale Symbiose, gleichsam dialektisches Gelingen. Denn Isabelle Faust war so klug (und auch so begabt), dass sie von jedem der beiden das (an)nahm, was ihr half. In Kürze: von Zsigmondy Expressivität, von Poppen Präzision und Stilbewusstsein. Zusammengenommen ergibt das ein Klangbild, welches – über die hohe technische Fertigkeit und über die Bandbreite des Repertoires hinaus – durch seine Vielschichtigkeit besticht. Nur wenige Geiger verfügen über so viele Farben, über ein derart weitgespanntes Spektrum an Ausdrucksnuancen, an dynamischen Facetten. Dazu übrigens sagt Isabelle Faust Kluges: Sie glaubt, dass der Streit zwischen den Vertretern der so genannten historischen Aufführungspraxis und der Modernisten der Vergangenheit angehört. Sie selbst sieht sich hierbei in der Rolle der Vermittlerin. Sie spielt auf Darmsaiten wie auf Stahlsaiten, begründet durch das jeweils aufzuführende Stück. Alexander Melnikov hat sie sich als Partner für die „Kreutzer- Sonate“ auserkoren, die auf der aktuellen Aufnahme dem Beethovenkonzert gleichsam als Parenthese hintangestellt ist. Eine furiose Interpretation ist das, von geradezu revolutionärer Radikalität und idealistischer Hingabe. Muss man gehört haben. Taugt zur Begeisterung.
Jürgen Otten, 19.07.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2007
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