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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

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am 04.05.2024



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27. April — 03. Mai 2024

Freitag, der Dreizehnte

Musikalische Triskaidekaphobie

Menschen sind in der Lage, die seltsamsten und irrationalsten Ängste zu entwickeln. Neben Ängsten vor Spinnen oder großen Plätzen, engen Räumen oder sozialer Nähe gibt es Phobien, die ausgesprochen schrullig wirken. Zum Beispiel die Triskaidekaphobie, zu Deutsch die Angst vor der Zahl 13. Sie ist eigentlich durch nichts zu begründen, aber noch immer weit verbreitet und steht dem Aberglauben nah. So gibt es heute noch Straßen ohne die Hausnummer 13 und Fluggesellschaften, die auf die Reihe 12 die Reihe 14 folgen lassen und die 13 lieber aussparen, weil dort zu sitzen möglicherweise Unglück bringen könnte.

Arnold Schönberg soll unter starker Triskaidekaphobie gelitten haben. Dieses Kuriosum und die Tatsache, dass er der Erfinder der Zwölftontechnik war, hat das MusikTheater an der Wien mit dem Regisseur Johannes Erath und dem Dirigenten Michael Boder neben Schönbergs 150. Geburtstag zum Anlass genommen, mit dem Ensemble Klangforum Wien den Abend „Freitag, der Dreizehnte“ zu konzipieren. Auf halber Strecke der Probenzeit starb Michael Boder völlig überraschend, Konzept und Proben waren aber weit genug gediehen, dass nun seine Assistentin Anna Sushon die musikalische Leitung übernehmen und das Projekt zu Ende führen konnte.

Der multimediale Abend ist kein klassisches Guckkastentheater, sondern im Grunde ein Wandelkonzert, das im „Reaktor“, einem pittoresk abgeranzten Spielort im gar nicht vornehmen Stadtteil Hernals im siebzehnten Wiener Gemeindebezirk eine ideale, auratische Bühne gefunden hat. Bespielt werden in dem ehemaligen Heurigenlokal aus dem frühen 19. Jahrhundert drei Räume, eine Art Foyer mit gusseiserner Wendeltreppe, einem Kinosaal und einer langgestreckten, Basilika-artigen Säulenhalle, in der ein langer, mit Silberfolie beklebter Laufsteg zum zentralen Spielort wird, am Kopfende sitzt das Klangforum-Ensemble im Halbdunkel.

Wie kommt man nun dem schillernden Multitalent Schönberg bei, das auch musikalisch so viele Gesichter hatte? Vom Kabarett-Komponisten über den Spätromantiker bis hin zum puristischen Zwölfton-Tüftler? Außerdem hat Schönberg Spielkarten gemalt, ein Schachspiel für vier Beteiligte entwickelt, als respektabler Maler den „Blauen Reiter“ mitgeprägt und wurde nicht zuletzt auch als Lehrer großer Schüler einer der einflussreichsten Tonsetzer der Musikgeschichte. Seine Musik gilt dennoch bis heute nicht als mehrheitsfähig.

Johannes Erath und Michael Boder haben gar nicht erst versucht, Schönberg auf einen verständlichen und damit verkleinernden Nenner zu bringen, sondern eine Collage konzipiert, die mit Live-Musik, Zuspielern, Videos, dem einsatzfreudigen Arnold Schoenberg Chor Wien und mit zwei ausgewiesenen Schönberg-Expertinnen einen verrückt disparaten Abend geschaffen. Nämlich mit der Mezzosopranistin Magdalena Anna Hofmann und Christine Schäfer, die mit diesem Projekt ihren ersten Auftritt nach zehn langen Jahren der Bühnenabstinenz absolviert.

Die Sopranistin trat zuletzt vor exakt zehn Jahren ebenfalls in Wien auf, damals auch am Theater an der Wien als Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“ unter der Stabführung von Nikolaus Harnoncourt. Danach erwischte sie eine Funktionsstörung der Stimme, sie musste ihre bis dato atemberaubende Karriere abbrechen und widmete sich fortan dem Unterrichten. Freilich nicht, ohne weiterhin an der eigenen Stimme und deren Gesundung zu arbeiten. „Ich bin nach wie vor außer Dienst“, sagt sie am Rande der Generalprobe. Dieser Abend sei eine Sache unter Freunden, außerdem singe sie hier ja kaum. Das ist untertrieben, den Christine Schäfer tritt als Pierrot auf und performt sehr wohl stimmlich, singt einige sehr hohe Töne, die gesund und vertraut klingen.

Ansonsten demonstriert sie ihre unverändert magnetische Bühnenpräsenz, die in Salzburg einst in Claus Guths „Figaro“ Inszenierung selbst Anna Netrebkos Susanna neben Schäfers flamboyantem Cherubino zur Nebenfigur degradierte. Auch im Wiener Reaktor zieht Schäfer die Aufmerksamkeit auf sich, mit ihrer koboldhaften Beweglichkeit, ihrer androgynen Erscheinung und vor allem ihrer Stimme, erkennbar auch im Sprechen, erst recht in der Sopranlage, die silbrig, fragil und zugleich brennend intensiv klingt.

Ein Wiedersehen, das Hoffnung gibt und bewusst macht, wie sehr diese Stimme und ihre so besondere künstlerische Persönlichkeit gefehlt haben. Christine Schäfer war schon immer so ganz anders als ihre Fachkolleginnen, sie hielt nichts von den üblichen Präsentations-Klischees mit rauschenden Roben, flimmernden Klunkern und erotischen Verheißungen. Sie hatte immer schon etwas von einem Kobold, den sie nun wieder als Pierrot Lunaire verkörpert. Entweder schließt sich hier in Wien ein Kreis, oder ein neuer öffnet sich?
Regine Müller

Fotos: Werner Kmetitsch



20. — 26. April 2024

Strauss: Intermezzo

Dauerplappermaschine auf dem Skihaserlball

Eine der kuriosesten Opern dürfte sicher „Intermezzo“ sein, jene „bürgerliche Komödie mit sinfonischen Zwischenspielen“ von Richard Strauss, in der er 1924, natürlich wieder an der Semperoper Dresden, einen häuslichen Ehestreit für musiktheaterbedeutsam erachtet hatte.

Während inzwischen die einst als „Rosenkavalier“-Zweitaufguss geschmähte Strauss-Oper „Arabella“ wieder repertoirewürdig ist, sein eskapistisches „Capriccio“ als Soprandiven-Vehikel neue Werkschätzung genießt und sogar die überlangen, bedeutungsschwer späten Griechenopern ächzend dem Richard-Strauss-Kanon seiner Bühnenwerke eingefügt wurden, schien der „Intermezzo“-Fall lange Zeit rettungslos verloren: Zu albern, zu aufgeplustert, zu eitel hatte sich hier der letzte Meister der abendländischen Tonkunst mit einem läppischen Gattenzwist ein zweifelhaftes Musiktheaterdenkmal gesetzt.

Bevor in Dresden 2025 zum 101. Jubiläumsjahr eine Neuproduktion des wirklich raren Werkes herauskommt, gibt es „Intermezzo“ nun zum 100. an der Deutschen Oper Berlin. Premiere ist am 25. April. Und hier ist das Stück Teil einer ambitionierten Strauss-Trilogie, die das Duo Tobias Kratzer/Donald Runnicles nach einer höchstens halbguten „Arabella“ in letzten Jahr 2025 mit der „Frau ohne Schatten“ krönen möchte.

„Intermezzo“ zeige, so das Team, „dass die Mechanismen der Zweierbeziehung, die Strauss hier hemmungs- und schonungslos offenbart, auch im 21. Jahrhundert nur allzu vertraut sind und dass sich hinter der scheinbar harmlosen Komödie ein kunstvolles Spiel über Gefühle und eine Reflexion über das Wechselspiel von Künstlerexistenz und Privatleben verbirgt.“

Wenn man alles Autobiografische und Anekdotische weglässt – die Strauss-Maske der Uraufführung, das bis in Redewendungen nachkomponierte Xanthippen-Getue seiner echten Gattin Pauline –, dann spult sich da in 13 Szenen und acht Orchesterzwischenspielen ein erstaunlich modernes, psychologisch frappant getroffenes Duo ab.

Zudem ist die Sängerin der Christine in einer der längsten und kapriziösesten, unbedingte darstellerische Präsenz erfordernden und auch deshalb kaum gegebenen Opernpartien auf das Äußerste gefordert. Da muss parliert und geschrieben, charmiert und geliebkost werden. Da kommt der Bubi ins Bett und die Dienstboten werden gemaßregelt. Es wird mit dem Hallodri Baron Lummer Schlitten gefahren und auf einem rustikalen Skihaserlball geflirtet.

Zudem sollte die Sängerin groß- wie edeltimbriert sein, um mühelos die schlimmsten Parlandoklippen dieser weiblichen Dauerplappermaschine zu meistern, sie braucht Ausstrahlung, Witz, Nuancenfeinheiten – und sogar noch die Kraft für die finalen Treueschwüre des reumütig in die traute Ehezweisamkeit zurückrudernden Weibchens. Die Strauss vielleicht gar nicht so parodistisch gemeint hat, wie es heute emanzipationspolitisch korrekt behauptet wird …

Lang ist es her, 2008 war es, da hatte Christof Loy am Theater an der Wien diese alberne Handlung fragmentiert und niemals realistisch abspult. Er nahm am Ende sein bisweilen aufscheinendes Spiel mit Theaterwirklichkeiten wieder auf, wenn er die Christine vor einen Notenständer und den ihr vom Gatten gereichten Klavierauszug aufpflanzte und sie als Anti-Apotheose im Fis-Dur ihre Entschuldigungsarie in typisch Strauss' scher Übersüße vortragen ließ. Die seit dem finalen Seelen- und Kleiderstriptease im ersten Finale getragene Tragödinnenrobe überhöhte sie jetzt unwillkürlich zur Primadonna. Schließlich gingen beide in unterschiedliche Richtungen im Dunkel ab. Der Eheaus- und -fortgang blieb also offen.

Ein hochemotionaler Zyklus als Komponistenfrauenliebe und -leben, den Loy konsequent von allem Beiwerk befreite, wie auf dem zwischenmenschlichen Seziertisch filetierte. Die beiden Eheleute waren vor einer fugenlosen Tropenholzwand frontal an der Rampe aufgestellt, agierten naturalistisch und gleichzeitig wie in Anführungszeichen. So verkörperten sie heutige Prototypen, keine Charaktere. Loy ließ die übrigen Figuren, das Dienstpersonal, den hier ziemlich pubertären Bubi, die Skatrunde, laszive und groteske Frauenpersonen, wie somnambul durch das Geschehen gleiten, das so immer wieder konterkariert wurde.

Andererseits lenkte damals diese mustergültig runde Aufführung verstärkt die Aufmerksamkeit in den Graben, wo Kirill Petrenko mit dem wachen, zupackenden Radio-Symphonieorchester Wien einen wunderbar gestischen Instrumentalkommentar lieferte, das Werk vorantrieb, aufblühen, den grandiosen Orchestrator Strauss strahlend zu seinem Recht kommen ließ.

So erweist sich gerade das scheinbar so spießig altmodische „Intermezzo“ um den von einem falsch adressierten Brief einer Mieze Maier ausgelösten angeblichen Kapellmeister-Seitensprung in neuem Bühnenlicht als intelligent weitsichtige Oper über die Oper. Mehr sogar: Desillusionierend führt sie ihr Instrumentarium vor und trägt als „Charakter- und Nervenkomödie“ kaum etwas vom selbstgefälligen Bildungsballast der vielen anderen Strauss-Werke.

In Berlin sind in der Partie der Christine die schwedische Sopranistin Maria Bengtsson, als Kapellmeister Storch der Bariton Philipp Jekal zu erleben. Als Baron Lummer wird Thomas Blondelle aufgeboten.
Manuel Brug
Premiere: 25. April
Fotos: Monika Rittershaus


13. — 19. April 2024

Erwartung / Der Wald

Holzfäller und leblose Körper

Der deutsche Wald hatte als Metapher seine große Zeit im 19. Jahrhundert. Aber auch am Beginn des 20. Jahrhunderts wetterleuchtete er noch durch die Ideenlandschaft, wenn auch als psychoanalytisch gedeutetes Motiv, etwa bei Schönbergs Monodram „Erwartung“. Weniger bekannt dagegen ist immer noch Ethel Smyths „Der Wald“, obwohl die Komponistin langsam aber sicher wiederentdeckt wird.

In Wuppertal kombinieren Regisseur Manuel Schmitt und GMD Patrick Hahn nun beide Werke, Schönbergs sperriges Werk von 1909 und Smyths Opus von 1902. Zu Lebzeiten war Smyth durchaus anerkannt. Vor allem in Deutschland versuchte sie, Fuß zu fassen, was ihr mit Mühen auch gelang, „Der Wald“ erlebte immerhin am Königlichen Opernhaus Berlin seine Uraufführung, und ein Jahr darauf kam das Werk als erste Oper einer Frau an der New Yorker MET heraus. Wie so vielen bescherte auch Smyth die Zäsur des Zweiten Weltkriegs langes Vergessen.

„Der Wald“ und Schönbergs „Erwartung“ werden in Wuppertal nun eng verzahnt und ohne Pause gespielt, es beginnt mit dem kürzeren Schönberg: Im stummen Vorspiel betritt eine Frau eine Hotellobby. Sie trägt ein langes weißes Kleid, darüber einen dunklen Mantel, an der Wand über dem Tresen hängt ein expressionistisches Gemälde in Blautönen mit schemenhaften Gestalten in diffuser Umgebung, vielleicht eine Wasserlandschaft. Niemand bedient die junge Frau, sie betätigt ungeduldig die Tischglocke, doch nichts geschieht. Dann setzt Schönbergs Musik ein, die das spätromantische Terrain bereits verlassen hat, aber noch nicht in die heißkalten Höhen der Zwölftonmusik emporgeklettert ist.

Es beginnt der Monolog der namenlosen Frau, die sich an den Rand eines Walds fantasiert, auf der Suche nach ihrem Geliebten zu sein scheint und schließlich einen leblosen Körper findet. Es bleibt offen, ob er sie betrogen hat, sie sogar verließ und ob und was sie mit seinem Tod zu tun hat. Schönbergs Opus ist kontaminiert von den Erkenntnissen der Psychoanalyse, Marie von Pappenheims Libretto gibt Einblicke in die Psyche einer wahnhaften Frau und bedient zugleich das modische Interesse der Zeit an schwüler Erotik.

Julia Katharina Berndts Bühne zeigt ausgehend vom immer gleichen Hotelfoyer fluide sich verändernde Räume, deutet Naturhaftes aber lediglich mit Bühnennebel an. Die namenlose Frau zerhackt am Ende von „Erwartung“ das expressionistische Gemälde, dahinter deuten sich geheimnisvolle Weiten an, wenn „Der Wald“ übergangslos beginnt, ist das Bild verschwunden, dafür multipliziert sich der Lobbyraum immer weiter verkleinert nach hinten bis ins Ungefähre.

Drei Frauen tragen das Geschehen der beiden Opern: Die Namenlose (Hanna Larissa Naujoks) in „Erwartung“ und Röschen (Mariya Taniguchi), sowie Jolanthe (Edith Grossman) in „Der Wald“, die ersten zwei tragen lange weiße Kleider, Jolanthe schwarz und einen lilafarbenen Mantel, alle drei rötlichblonde Perücken. Der Geliebte, den die Namenlose bei Schönberg verzweifelt sucht, taucht dort als stumme Rolle in einem Kapuzenmantel auf, in „Der Wald“ kehrt er wieder als Heinrich. Der stirbt am Schluss von „Der Wald“, weil der seinem Röschen die Treue hält und nicht Jolanthes Sirenenrufen folgt, aber als finale Vollstreckerin kommt wieder Schönbergs Namenlose herein.

Das ist clever gemacht und gelingt atmosphärisch und auch in Sachen Personenführung schlüssig. Dass es in beiden Opern um einen imaginären Wald als Chiffre für allerlei Chaos im Unbewussten geht, wird in der Verklammerung sinnfällig. Dass beide Werke bei genauem Hinhören jedoch nicht so viel miteinander zu tun haben, wird aber auch mehr als deutlich. Handelt es sich bei Schönberg um ein extrem verdichtetes Kondensat und ein einsames Monodram, bietet Ethel Smyth alles auf, was die spätromantische Oper, die sich sogar noch ein bisschen in die Romantik zurücksehnt, aufzubieten hat.

Die Story ist etwas verworren: Die Hochzeit von Röschen und dem Holzfäller Heinrich steht bevor, die Waldgeister singen im Chor, danach die Dorfleute, ein Hausierer taucht auf mit einem Bären, der als singendes Kind mit Fellkopf hereintappst. Dann kündigt sich die geheimnisvolle Jolanthe an, die Geliebte des Landgrafen, der man nichts Gutes nachsagt. Heinrich hat zuvor Röschen ein gewildertes Reh gebracht – das bei „Erwartung“ übrigens bereits tot aus dem Schrank polterte – das Tier wird versteckt, da auf Wilderei die Todesstrafe steht. Jolanthe taucht auf, begehrt Röschens Heinrich, dieser weist sie zurück, sie rächt sich für die Abweisung, indem sie ihn verrät für die verbotene Wilderei sterben lässt.

Smyth hat sich lustvoll bedient: Nach intensiv kammermusikalischem Beginn, der an Strauss‘ Vorspiel von „Capriccio“ erinnert klingen Weber’sche Jägerchöre an, Wagners „Tannhäuser“, aber auch Schumann, Brahms und Mendelssohn. Das Libretto ist arg grobkörnig, die dramaturgischen Sprünge sind krass, die Musik aber ist handwerklich gut gemacht, indes kaum ein Geniestreich. Kein Zufall ist es sicher, dass eine Komponistin die Männer blass aussehen ließ, und beim weiblichen Personal emanzipiertes Selbstbewusstsein, aber auch biestig Kleingeistiges auffährt. Musikalisch lässt der Abend keine Wünsche offen: Patrick Hahn entfesselt süffigen Schönklang und klar aufgefächerte Strukturen, das Ensemble sind insgesamt famos, allen voran Mariya Taniguchis Röschen mit flammender Emphase, gefolgt von Edith Grossmans funkelnder Jolanthe und Hanna Larissa Naujoks expressiver Namenloser. Großer Applaus für einen interessanten Abend.
Regine Müller

Fotos: Björn Hickmann


06. — 12. April 2024

Bizet: Carmen

„Carmen“ in den Zeiten der Woke-Ära

Da möchten Opernhäuser was Gutes tun, und setzen zum Wohle der Kasse wie zum Gefallen des Mainstream-Publikums Georg Bizets „Carmen“ an, die sich mit Mozarts „Zauberflöte“ nicht nur in Deutschland alljährlich um den Statistikspitzenplatz als meistgespielter Titel kabbelt. Aktuell tun das gerade das Royal Opera House Covent Garden (Premiere war am 5. April) und das Opernhaus Zürich (Premiere am 7. April).

Aber sofort schrillen auch die Alarmglocken in Sachen Diversity und vor allem kultureller Aneignung. Denn wie heißt es doch so schön in der klassisch deutschen Übersetzung der (nachkomponierten) Habanera: „Die Liebe vom Zigeuner stammtet, fragt nach Rechten nicht, Gesetz und Macht“. Geht heute gar nicht mehr! Im Englischen oder Französischen ist Carmen zwar nach wie vor eine Gipsy oder Gitane (danach wurde auch die populäre Zigarettenmarke benannt), im korrekt Deutschen eine Roma. Doch als solche wird sie nicht (mehr) gezeigt. Und deshalb auch nicht sprachlich markiert.

Am besten freilich, man verwendet das böse und das komisch-umständliche Wort gleich gar nicht. Was besonders für die längst von Aktivisten geplagten und allzu oft in die Entschuldigungsenge getriebenen Opernhäuser im englischsprachigen Raum gilt. In Frankreich freilich hat man damit weniger Probleme. Da erschien die Außenseiterin Carmen etwa unlängst in einer nicht ganz astrein historischen Rekonstruktion des Palazzetto Bru Zane mit der Opéra de Rouen mit den üblichen Kostümklischees; freilich auch als freie Frau, ob „Zigeunerin“ oder nicht. Und auch davor nahm die jetzt in Zürich zu sehende Andreas-Homoki-Inszenierung als Koproduktion mit der Opéra-Comique kein Bedeutungsblatt vor den angeblichen Rassismusmund. Diese Carmen entsprach durchaus dem alten Rollenmodell, wickelte als nonkonformistisches Girlie wie als hüftwackelnd stolze Außenseiterin die Männer mühelos um den Macho-Finger – wurde aber als „Hommage an einen Mythos“ sexistisch entschärft.

Auf der Zürcher Webseite gibt man sich aktuell allerdings in Sachen Opern-Sex-Role-Model viel wolkiger und woker: „Es gibt wohl kein stärkeres Motiv für Hass und Mord als enttäuschte Liebe. In Georges Bizets Oper „Carmen“ wird aus dem einfachen Soldaten Don José in kurzer Zeit ein Mörder. Als er die attraktive Carmen kennenlernt, ist er ihr hoffnungslos verfallen – Don José bindet sich auf Leben und Tod an sie. Doch Carmen wendet sich schon bald dem Torero Escamillo zu. Allesamt Grenzgänger im Leben, bewegen sich Bizets Figuren in einem gefährlich-explosiven Spannungsfeld zwischen Anziehung und Ablehnung, zwischen Ernst und Spiel, zwischen Lust und Selbstaufgabe, Pflicht und Verlangen. Da wird sehr vieles überdeutlich gleich gar nicht ausgesprochen.

Immerhin, weder Zürich noch London fühlen sich bemüßigt, Trigger-Warnungen auf ihren Webseiten abzugeben, wie das inzwischen bei den angeblich exotisch-kulturausbeuterischen Puccini-Rennern „Madama Butterfly“ und „Turandot“ als schwer problematisierte Titel der Fall ist. Man unterschlägt einfach Carmens Herkunft (wie auch die ihrer Freundinnen Mercedes und Frasquita), hellt den Hautton der Darstellinnen gegenüber früher auf und gibt sie lediglich als lockere Liebesvögelchen aus. Aber ist das nicht wiederum frauendiskriminierend?

„Das bürgerliche Publikum der Uraufführung von 1875 an der Pariser Opéra Comique reagierte jedoch zunächst mit Ablehnung auf Bizets Werk. Es wurde als zu grell und zu unmoralisch wahrgenommen. In ihrem anarchischen Freiheitsdrang und ihrer lustvoll gelebten Weiblichkeit stellte die Titelfigur eine Gefahr für die etablierte Ordnung dar.“ So klärt Zürich weiter auf. Wirklich? Woher die Unmoral und der anarchische Freiheitsdrang kommen, das wird hübsch verschleiert. Carmen, einfach nur eine Bordsteinschwalbe. Ist das jetzt gut?

Doch Andreas Homoki entgeht natürlich jeder Diskussion, indem er ein altes, billiges Mittel anwendet: Er macht Theater auf dem Theater: „Ausgangspunkt seiner Inszenierung ist der Ort der Uraufführung, die Opéra Comique – Bizets Werk ist in seiner spielerisch-offenen Form und den vielschichtigen theatralen Ebenen spürbar mit dem dort gepflegten Genre verbunden.“ Ach ja, so einfach geht das. Und wenn es um Klischees geht, dann sind es nur spanische. „Unsere Inszenierung ist eine Hommage an die Opéra Comique, an die Reise, die diese Oper seither angetreten hat, und an den Mythos Carmen.“ Aber was beinhaltet der auch? Hier nur eine Leerstelle.

Am Ende steht allerdings ein Femizid: „Indem Don José Carmen bedroht und dann tötet, offenbart er seine eigene Schwäche und liefert den Beweis für sein Scheitern. Carmen stirbt, weil sie stärker war als er. Sie stirbt, aber ihr Mythos wird weiterleben – wie eine Heldin einer griechischen Tragödie. Es ist ein emanzipatorisches Stück, bei dem der Mann nicht gut wegkommt.“

In London wird die bedeutungssandgestrahlte „Carmen“, die jetzt nur ein „free spirit“ ist, als Koproduktion mit den Opern von Madrid und Mailand von Damiano Michieletto inszeniert, dirigiert von Antonello Manacorda. Neben Aigul Akhmetshina, singt Piotr Beczala den Don José, Kostas Smoriginas ist Escarmillo, Olga Kulchynska die bieder-brave Micaëla. In Zürich hingegen steht Musikchef Gianandrea Noseda am Pult und Marina Viotti singt die Titelrolle. Ihr Don José ist Saimir Pirgu, Micaëla wird von Natalia Tanasii verkörpert, Escamillo von Łukasz Goliński

Und vielleicht überlassen wir der 27-jährigen Akhmetshina, als halbe Tatarin und halbe Baschkirin selbst in Russland eine Außenseiterin, das letzte „Carmen“-Wort. Schließlich hat sie die Rolle bereits in sieben Produktionen gesungen, zuletzt an der Met, ebenfalls mit Beczala: „Faszinierend ist, dass Frauen Carmen hassen und Männer Carmen hassen. Die Frauen, weil sie nicht die gleiche Macht haben, die Männer, weil sie sie nicht kontrollieren können.“ Auch heute noch, sagte sie, „ist unsere Welt nicht bereit für Carmen. Sie ist absolut ehrlich und wahrhaftig“.

Manuel Brug

Fotos: Monika Rittershaus


30. März — 05. April 2024

Rivoluzione & Nostalgia

Experiment geglückt

Opernpartituren gelten nach wie vor als sakrosankt. Ausreißer gab es freilich immer schon, vor allem in Barockopern, in denen immer schon munter gestrichen, ergänzt und umgestellt wurde, auch weil aktuelle Bedingungen wie etwa Umbesetzungen solche Eingriffe einfach erforderten. Das klassische und romantische Kernrepertoire aber blieb bislang fast unangetastet. Eine Ausnahme blieb Tatjana Gürbacas „Ring“-Dekonstruktion am Theater an der Wien von 2017.

An der Brüsseler Monnaie-Oper aber liebäugelt man schon seit längerer Zeit mit Versuchen, auch Opernpartituren als Material zu begreifen, das in neuen Zusammenhängen Neues zu erzählen vermag oder subkutane Zusammenhänge beleuchtet. Kurz vor dem ersten Pandemie-Lockdown versuchte man sich an einem Pasticcio der Mozart’schen Da-Ponte-Opern, da erschienen etwa bereits in der „Don Giovanni“-Ouvertüre Personen, die dort eigentlich nichts zu suchen haben: die Feuerwehrleute Guglielmo und Ferrando, der Transgender-Philosoph Alfonso, der spanische Politiker Almaviva, sein Angestellter Figaro, die Boutiquenbesitzerin Despina. Ein furioses Experiment, leider ausgebremst durch die Pandemie.

In der vergangenen Saison beschritt „die Monnaie“ mit „Bastarda“, einer Synthese der vier Donizetti-Opern über die Tudor-Dynastie wiederum mit Erfolg neue Wege. Nach dem großen Zuspruch des Publikums erforschen nun der Regisseur Krystian Lada und der Dirigent Carlo Goldstein mit einem neuen Pasticcio in Form eines Diptychons („Rivoluzione“, dann „Nostalgia“) das frühe Schaffen von Giuseppe Verdi anhand von musikalischen Auszügen aus 16 seiner Opern.

Für Carlo Goldstein war klar, dass er nur mit Ausschnitten früher Verdi-Opern in dieser Form würde arbeiten wollen. Denn die späten seien teils so bekannt und „ikonisch“, dass man einzelne Szenen, Chöre oder Arien niemals aus ihrem Kontext herausoperieren könnte, ohne dass der ursprüngliche Zusammenhang immer mitgedacht würde. Die zweite rote Linie des Dirigenten lag beim Libretto: „Keine Umdichtungen, keine grundsätzlichen Umdeutungen der Situationen. Wir haben nur Namen geändert, wo es erforderlich für die neu erdachte Handlung war. Aber eine Liebesarie ist eine Liebesarie geblieben, eine Eifersuchtsszene eine Eifersuchtsszene.“

Der erste Abend, betitelt „Rivoluzione“ ist eine Verdichtung musikalischer Höhepunkte, die Arien aus „Nabucco“, „Macbeth“, „Ernani“, „I Masnadieri“, „La battaglia di Legnano“ und „Luisa Miller“ vereint und vom Team in die revolutionäre Welt der mittleren und späten 1960er Jahre versetzt wird. Im Zentrum der Handlung steht eine Revolte, die drei Freunde und junge Aktivisten zusammenführt: Carlo, Giuseppe und Lorenzo. Inmitten der Proteste, die in Europa ausbrechen, entstehen Liebeskonflikte um eine gewissen Laura, die Geigerin und kettenrauchende Aktivistin ist, außerdem gibt es die junge Filmemacherin Cristina.

Das Personal folgt im Grunde den Mustern typischer Verdi-Helden und Antihelden, also der feurig-heldische Tenor, der großmütige Bass, ein komplexer, vielschichtiger Sopran-Charakter und eine zweite, defensivere und zerbrechlichere Sopranstimme. Verdis politische Risorgimento-Stimmung, aufgepeitschte patriotische Chöre, Männer-Duette, die um Verantwortungs-Zusammenhänge ringen und Sopran-Szenen, die nach einem Weg in die Selbstbestimmung suchen, korrespondieren zudem trefflich mit der Idee der Macher, die Handlung in die bewegte Zeit der 1968-Umbrüche zu verlegen.

Krystian Ladas Inszenierung zitiert Filmgeschichte mit Reminiszenzen an Godard oder Fellini, Videos zeigen originales Dokumentar-Material aus jener Zeit, Statisten mit Schwellköpfen stolzieren herein als Ikonen linken Denkens wie Che Guevara, Karl Marx oder Martin Luther King, aber auch Robespierre sieht man über die Bühne taumeln, die zudem mit Tänzern gefüllt ist und mit den Chor-und Statisten-Tableaus bisweilen Grand-Opéra-Üppigkeit erreicht.

Musiziert wird durchweg famos, Carlo Goldstein im Graben ist ein idealtypischer Verdi-Dirigent, er organisiert straff, mit untrüglichem Gespür für Sprach-Rhythmus, Drive und Brio und geht niemals in die Falle oberflächlicher Knalleffekte oder banaler Umtata-Gemütlichkeit. Enea Scala singt die Carlo-Figur mit Aplomb, schönem Belcanto-Legato und bombensicheren Höhen. Eine Herausforderung des Pasticcio-Konzepts geht vor allem die Kondition der Sänger an, denn sie haben in dieser Kompilation musikalischer Schlüsselmomente ungleich mehr zu tun als im Verlauf eines „normalen“ Verdi-Plots mit Nebensträngen der Handlung und Verschnaufpausen, wenn kleine Rollen auf der Bühne agieren. Hier aber geht es Schlag auf Schlag.

Giuseppe (Lauras Bruder) ist der markant-sonore Vittorio Prato, Justin Hopkins (Lorenzo) steht ihm in puncto Sonorität und Schmelz in nichts nach, Nino Machaidze gibt eine zerrissene, stimmlich äußerst souveräne und koloraturgewandte Laura, eine echte Entdeckung ist der schlackenfreie, kristallklare und zugleich seraphisch-warme Sopran von Gabriela Legun in der Rolle der Filmemacherin Cristina. Ihre Stimme agiert völlig mühelos und frei, blüht machtvoll auf und decrescendiert gleich darauf ins Nichts eines schwebenden Pianos. Eine lyrisch grundierte, bewegliche Stimme mit Potenzial zum idealen Spinto-Sopran, den Namen sollte man sich merken.

Legun taucht auch am zweiten Abend „Nostalgia“ wieder auf, der vierzig Jahre später im aseptischen White-Cube-Raum einer Galerie spielt. Alle anderen Rollen sind anders besetzt, schließlich sind an den Barrikaden-Kämpfern vierzig Jahre nicht spurlos vorübergegangen.

Die drei Revolutionäre sind nun Geschäftsleute, pensionierte Showbiz-Figuren und Politiker geworden. Von der Revolte sind nur noch die Erinnerungen geblieben. In Donatellas (Helena Dix mit viel Witz und Selbstironie) Galerie wird eine Retrospektive des Mai '68 gezeigt, in der Mitte der Bühne ist eine graue Kunstinstallation aus Barrikaden, Fahnen und Pflastersteinen zu sehen, Virginia, die Freundin des Künstlers und Tochter der Filmemacherin Cristina, war auf eine Kiste mit Videodokumentationen vom Mai '68 (die von ihrer Mutter gedreht worden waren) gestoßen und überließ sie Donatella, die das Trio der ehemaligen Revolutionäre in der Galerie wieder vereinte. Die Ausstellung wird so zum Ort der Konfrontation mit ihrer persönlichen Geschichte.

Der zweite Abend „Nostalgia“ ist insgesamt konzentrierter und wirkt noch berührender, der Chor singt nun häufig aus dem Off oder aus den Proszeniumslogen, zum Schluss den pianissimo beginnenden, berüchtigten „Va, pensiero“-Chor aus „Nabucco“. Wieder wird erstklassig gesungen und Carlo Goldstein unterstreicht seinen Ausnahme-Rang als exemplarischer Verdi-Dirigent, der hoch konzentriert, mit viel Geschmack und idealem Gespür für die schwierigen Kräfteverhältnisse von Verdis Partituren agiert. Große Begeisterung für ein erhellendes und geglücktes Verdi-Experiment.
Regine Müller

Fotos: Karl Forster


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Das Klavierquartett c-Moll des 19-jährigen Strauss war ein Geniestreich, der sofort als solcher erkannt wurde. Komponiert 1883/84, zwischen der ersten Sinfonie und der „Burleske“ für Klavier und Orchester, gilt es als Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Brahms und den Formen der klassisch-romantischen Instrumentalmusik.

Aus einer viel späteren Schaffensphase, nämlich den letzten Kriegsmonaten 1945, stammen die „Metamorphosen für 23 Solostreicher“. Zu jener Zeit arbeitete […] mehr


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