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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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16. — 22. März 2024

Carmen

Die echte Carmen
„Carmen“ ist nach Mozarts „Zauberflöte“ bekanntlich die beliebteste Oper überhaupt. Der Repertoire-Hit hat jedoch eine schwierige Entstehungsgeschichte hinter sich, denn schon in der sich über Monate ziehenden Probenzeit vor der Uraufführung veränderte Bizet auf Drängen des Intendanten der Opéra Comique am Original weit mehr als nur Details. Dennoch war die Uraufführung nur ein mäßiger Erfolg. Beinahe 150 Jahre nach der ersten Aufführung der bis heute gespielten, veränderten Fassung ist es nun endlich zur Uraufführung, nämlich zur Aufführung der Urfassung gekommen. Der Bärenreiter Verlag hat in Zusammenarbeit mit René Jacobs die Originalmanuskripte ausgewertet und die Urfassung rekonstruiert. Die erste Aufführung der semikonzertanten Produktion fand im Antwerpener De Singel statt, Samstag gastiert die Ur-Carmen im Konzerthaus Dortmund und am Sonntag in der Kölner Philharmonie.
Der Pariser Uraufführung von „Carmen“ ging ein mühsamer und vor allem für den Komponisten schmerzhafter Probenprozess voraus. Ein Grundproblem von Bizets „Carmen“ war in den Augen und Ohren des Opéra-Comique-Intendanten Camille du Locle schon, dass Bizet mit dem tragischen Tod der Carmen die Grundregel des guten Endes der Opéra Comique sprengte. Das in der Urfassung noch nihilistischere Ende lehnte der Intendant sogar entschieden ab. Während der Proben rebellierte der Chor gegen die aus seiner Sicht zu umfangreichen und anspruchsvollen Aufgaben. Den für die Rolle des Don José vorgesehenen Tenor plagte eine Stimmkrise und damit einhergehende Intonationsschwierigkeiten. Bizet hatte für ihn am Beginn eine hinter der Bühne zu singende Canzone komponiert, doch der Sänger konnte die Spur nicht halten. Also fiel die Passage weg.
Doch es wurde nicht nur gestrichen, so vermisste der Intendant spanisches Lokalkolorit, woraufhin Bizet einige Tänze dazu komponierte, die allerdings dramaturgisch aufhalten. Der Sänger des Moralès fand seine Rolle zu klein, er bekam Couplets dazu. Dafür wurden Chöre gestrichen und ersatzlos auch die ursprünglich vorgesehenen Melodramen, auch deshalb, weil sich Balance-Probleme nicht lösen ließen. Die gesprochenen Dialoge, die ursprünglich vorgesehen waren, blieben zunächst erhalten, verschwanden aber in der von Ernest Guiraud zwei Jahre nach Bizets Tod veröffentlichten Partitur ersatzlos zugunsten nachkomponierter Rezitative.
Die auffallendste Änderung gegenüber der bislang gebräuchlichen Fassung, basierend auf Guirauds Partitur ist die Auftrittsarie der Carmen in der „Urfassung“: Hier sollte sie eigentlich ein leichtes, heiteres Lied singen auf den Text „L’amour est enfant de Bohème“. Mit Chorbegleitung verkündet Carmen ihren Stolz und propagiert die freie Liebe, Rhythmus und musikalischer Aufbau des Lieds erinnern deutlich und nicht zufällig an die „Marseillaise“ und ihr Ideal der Freiheit. Der Carmen der Uraufführung, Célestine Galli-Marié passte diese Auftrittsarie jedoch nicht, sie wünschte sich von Bizet eine Arie, bei der sie tanzen und ihre Hüften kreisen lassen konnte. Voilà: Bizet komponierte die „Habanera“, bis heute der bekannteste Hit aus seiner an Hits nicht eben armen Oper, der einen ganz anderen, eben nicht heiteren Ton vorgibt und damit den Charakter der Carmen verändert.
Das alles und noch viele weitere geänderte Details summieren sich. Am Ende der langen Probenzeit, nach weiteren Veränderungen während der ersten Aufführungsreihen und durch die Partitur von Guiraud, stand die „Carmen“, wie wir sie heute zu kennen glauben, deren inhaltliche, dramaturgische und nicht zuletzt auch musikalische Akzente sich von Bizets ursprünglichem Plan jedoch ziemlich weit entfernt haben.
Durch die gestrichenen Dialoge und Melodramen wurde das Ganze schwerfälliger, rasches Parlando und gewitzte Situationskomik wichen zugunsten der Grand Opéra-Geste, die auch nach schwereren Stimmen verlangte. Bis heute wird Escamillo meist mit einem Heldenbariton besetzt und wird damit ein dröhnender Macho. Dabei verlangt die Partitur eine leichtere Stimme, die Verzierungen und Vorhalte beherrscht. Auch Don José ist viel lyrischer gedacht, wenn er mit der Canzone hinter der Bühne beginnt.
Die neue, rekonstruierte Urfassung der „Carmen“ entstand nun in enger Zusammenarbeit von René Jacobs und Paul Prévost vom Bärenreiter Verlag. Jacobs setzte sich auch an die Original-Dialoge und aktualisierte sie dezent.
Das Ergebnis, präsentiert als semi-konzertante Produktion, überzeugt auf ganzer Linie: Das Genter B’Rock Orchestra spielt agil und transparent auf historischen Instrumente mit Darmsaiten und den charakteristisch weicher klingenden Bläsern, die Chöre (Choeur de chambre de Namur und der Kinderchor der Vlaamse Opera) singen schlank und schlagkräftig, der Cast ist erstklassig: Gaëlle Arquez ist eine höchst bewegliche, dennoch vollstimmige Carmen, Francois Rougier ein lyrisch weicher, zu dramatischen Ausbrüchen aber durchaus fähiger Don José mit wunderbaren Piani, Thomas Dolié ist das Musterbeispiel eines Baritono di Grazia als Escamillo mit viel Grandezza, Sabine Devieilhe eine engelsklare, leichtgewichtige Michaëla.
René Jacobs schlägt gemäßigte Tempi an, dennoch ist diese „Carmen“ enorm spritzig, kurzweilig, alles geht vom eloquenten Parlando des durchweg muttersprachlichen Cast aus, die Ur-Carmen ist viel näher dran an der literarischen Vorlage, Prosper Mérimées fatalistischer Novelle und wirkt moderner als die zur Grand Opéra hochgepimpte Fassung der bislang bekannten „Carmen“. Bleibt zu hoffen, dass die Urfassung sich behauptet und durchsetzt.
Regine Müller
Fotos: Regine Müller, Miriam Devendried


09. — 15. März 2024

Die Passagierin

Große Gefühle und kalte Distanz
Oben das hellglänzend Gute – unten die Hölle von Auschwitz. Das zweistöckige Bühnenbild, um das auf Schienen Eisenbahnwagen fahren, sagte schon fast alles über die Oper „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg, die auf den Erlebnissen der polnischen Autorin Zofia Posmysz im Vernichtungslager beruht.
Eine Deutsche begegnet auf einer Schiffsreise einer Polin, die in ihr eine Aufseherin aus Auschwitz wiedererkennt; in Rückblicken bricht die Vergangenheit wieder auf. Dumpf marschieren in dieser Oper die Trommeln, Zwölftoninseln verbreiten Dissonanz, polyglott verschlingen sich Frauenstimmen zum Hoffnungschor, Instrumente duettieren, die Geigen schluchzen scharf und am Ende gibt es ein so verlorenes wie tröstliches Arioso über Schuld und Sühne. Die Passagierin Martha, die als 17-Jährige für das Verteilen von Flugblättern nach Auschwitz kam, singt es betörend gefasst vor silbrig verschwimmenden Hintergrund.
In dieser Partitur ereignet sich alles, was eigentlich bei einem solchen Thema nicht sein darf: die großen Gefühle und die kalte Distanz, die Ambivalenz in Wort und Ton, die nicht verurteilt, nur erzählt. Mit großer dramatischer Wucht erklingt doch ein autonomes Kunstwerk. Eines, von dem die staunende Welt bis zu eingangs erwähnten, hervorragenden szenischen Uraufführung 2010 bei den Bregenzer Festspielen nichts wusste. Dabei wurde diese Oper schon 1968 beendet.
„Die Passagierin“ hatte in der Sowjetunion keine Aufführungschance. Weil sie sich nicht eindeutig festlegt, nicht schwarzweiß zeichnet, nicht die nur böse Nazifrau anprangert, deren wohl emotionale Beweggründe für ihre Hilfeleistung an einigen Insassen diffus, aber deshalb auch so lebenswirklich bleiben. In Polen waren aus dem in Rückblenden erzählten Stoff ein Film und ein Fernsehspiel entstanden, sogar in der DDR wurde die Novelle (mit einem einschränkenden Vorwort) übersetzt. Nur in Russland konnte die Oper erst 2006 und da auch nur konzertant vorgestellt werden.
Mieczysław Weinberg (1919-96), ihr Komponist, ist einer der großen Bescheidenen, aber nicht nur deswegen auch großen Ignorierten der Musikgeschichte. Das lässt sich biografisch erklären; auch durch eine ungünstige Verlagssituation, die dazu führte, dass lange nichts für ihn unternommen wurde. Begreifen lässt es sich kaum. Man muss Weinberg nicht gleich als „Russlands dritten Mann“ zwischen Schostakowitsch und Prokofjew ausrufen, aber eine bedeutende Begabung ist er allemal.
Bei der Bregenzer Uraufführung von David Pountney vor 14 Jahren war die sich am Ende mitverbeugende Zofia Posmysz bereits 87 Jahre alt. Allein diese Produktion wurde seither in Warschau, London, Houston, New York, Chicago und Miami gezeigt, bevor sie dieser Tage ein letztes Mal in Madrid unter der Leitung der Weinberg-Streiterin Mirga Gražinytė-Tyla über die Bühne geht.
Posmysz starb erst 2022 in Auschwitz. Nun kommt das Werk erstmals ohne ihre finale Präsenz auf die Bühne, an der Bayerischen Staatsoper. Premiere ist am 10. März, Regie führt Tobias Kratzer. 2013 war zwar schon deutsche Erstaufführung der „Passagierin“ in Karlsruhe, aber gerade im Land der Täter wurde diese immens zeithistorisch wichtige, dabei aber gelungene Oper bisher neben Gelsenkirchen und Altenburg-Gera nur 2015 in Frankfurt an einem großen Opernhaus sichtbar ausgestellt.
Tobias Kratzer will jetzt in München einen etwas abstrakteren Blick auf das Stück versuchen, das ja irgendwie auch Sympathien für die einstige Täterin weckt, er will in den KZ-Szenen „keine aufgeklebten Glatzen und gestreiften Jacken“ zeigen und in keine „Gedenkroutine rutschen“. Auch haben er und sein Dirigent, Staatsopernmusikchef Vladimir Jurowski den melodramatischen Anteil der Szene im Lager etwas zusammengestrichen, rücken, wie im Roman von Zofia Posmysz, die Perspektive auf dem Schiff mehr in den Vordergrund.
Sie suchen zudem einen abstrakteren Draufblick durch das Einziehen einer dritten Erzählebene: „Sie spielt 2024 auf einem Schiff, wo die alt gewordene Lisa wie die alte Rose in ,Titanic‘ noch einmal zurückfährt. Vielleicht, um die Asche ihres Mannes zurück ins Vater- beziehungsweise Mutterland zu bringen. Das bringt eine gewisse Gegenwärtigkeit in die Geschichte: die Frage, wie man auch viele Jahrzehnte danach mit Schuld umgeht.“
In München sind als junge und alte Lisa Sophie Koch und Sibylle Maria Dordel zudem Charles Workman, Elena Tsallagova, Jacques Imbrailo und Larissa Diadkova zu erleben.
Manuel Brug
Fotos: W. Hoesl, M.Braun/J.Dahl (Slider, Bild 4)


02. — 08. März 2024

Roméo et Juliette

Mit der Pudel-Perücke am Ballermann
Kameras und Videoscreens sind im Theater Alltag, grundsätzliche Vorbehalte dagegen sind zwecklos, denn diese Mittel haben sich längst durchgesetzt. Bei Marie-Eve Signeyroles Neuinszenierung von Charles Gounods Oper „Roméo et Juliette“ im Wiener Museumsquartier, der Ausweichspielstätte des MusikTheaters an der Wien werden nun grundsätzliche Vorbehalte gegen Kameras auf der Bühne und alles beherrschende Screens doch wieder wach. Denn hier werden Kameras und überlebensgroße Projektionen zum leer drehenden Selbstzweck, zum Zoom ins Nichts, um Aufblasen des Nebensächlichen. Die Live-Kameras (Céline Baril, Mariano Margarit) zeigen hier nicht – wie etwa beim Live-Kamera-Pionier Castorf – Dinge, die im Verborgenen, in Hinterzimmern oder Offstage passieren, sondern sie zielen sehr oft auf Menschen in größeren Tableaus, wie sie typisch sind in der französischen Oper und zoomen sie groß auf die Leinwand. Auch das könnte interessant sein, weil man eine Figur in Aktion so näher betrachten kann. Tatsächlich aber wird häufig eine Person gefilmt, die gerade nichts Bedeutendes tut, sagt oder singt, sondern vielleicht nur einfach ein lustiges Kostüm trägt. Auch das wäre noch kein Ärgernis. Das wird es dann aber doch, wenn über der Bühne im gleißenden Licht ein riesiges Gesicht erscheint und fotogen guckt, während unten im Dunkeln und ohne Spot irgendjemand verzweifelt singend um szenische Aufmerksamkeit ringt, während das Publikum nach oben glotzt.
Dergleichen geschieht mehrfach an diesem Abend. Eine Respektlosigkeit sondergleichen gegenüber der sängerischen Leistung all jener, die im Dunkeln singen müssen.
Aber der Reihe nach: Regisseurin Marie-Eve Signeyrole kommt – wer hätte das gedacht? – vom Film und will offenbar auch im Theater nur das machen, was sie schon zu können glaubt, und das im Milieu, das ihr vertraut ist. Wie langweilig! Daher verlegt sie Gounods Vertonung von Shakespeares in Verona spielendem Drama nicht etwa einfach in die Gegenwart, sondern in die 1990er Jahre in Hollywood. Oder was sie dafür hält. Sie wolle die Geschichte endlich einmal aus der Sicht der weiblichen Hauptfigur, also Julia, beziehungsweise hier Juliette, erzählen, hatte Signeyrole vorab wissen lassen. Dieser Ansatz ist derzeit sozusagen Standard und bringt da weiter, wo in alten Stoffen entwickelte Charaktere in komplizierten Gemengelagen agieren. Kaum aber in einer archaischen Konstellation wie der von Shakespeare, die Gounod nicht veränderte: Zwei rivalisierende Familien von Stand, zwei blutjunge, noch nicht zu Charakteren gereifte Teenager, Intrigen, Zufälle, Irrtümer. Wenig Raum für autonome Entscheidungen auf beiden Seiten, sondern Konventionen, Zwänge und Machtpolitik.
Bei Gounod kommt eine hinreißend süffige Musik hinzu, die das Teenager-Paar interessanterweise nicht heroisiert, sondern eher erdet, normaler, genussfreudiger werden lässt. Dieser französische Geschmack der Musik war wohl die Honigspur, die Marie-Eve Signeyrole darauf kommen ließ, aus Juliette ein ziemlich heutiges, mit allen Wassern erotischer Erfahrungen gewaschenes und gelangweiltes It-Girl zu machen, das offenbar zu einem Film-Produzenten-Clan gehört und ständig mit der Kamera hantiert, um ihr Party-Life gleich auch selbst zu inszenieren. Role Models sind für die Regisseurin die Coppolas und für Juliette Coppolas Tochter Sofia, die sich als heute etablierte Filmregisseurin von ihrem übermächtigen Vater emanzipieren musste.
Am Anfang sieht man zwei weiße Haufen auf dem Boden liegen, auf den ein Mittelstreifen aufgemalt ist wie auf einem Highway. Zwei Unfallofper? Das Liebespaar?
Die Hollywood-Grundidee wird nun unterstrichen durch zahlreiche Filmzitate, die von David Lynch („Lost Highway“) bis zu Hitchcocks Duschszene reichen, dabei wird aus dem Duell zwischen Tybalt und Mercutio, in das Roméo sich einmischt, ein tödliches Autorennen à la „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Richtig cool wird das Ganze auch durch eingeschobene Popsongs, (für die Umbaupausen), wenn etwa Bruder Laurent sich mit „Come As You Are“ von Nirvana zudröhnt oder Juliette mit „Zombie“ von den Cranberries.
Dass die Capulets, beziehungsweise die Coppolas, sich so benehmen, als würde eine Grillparty am Ballermann oder im neureichen Russen-Milieu steigen, macht Signeyroles Konzept nicht glaubhafter, überhaupt steigt mit der Dauer des Abends der Unmut. Obwohl Fabien Teigné ein tolles, auf der Drehbühne sich ständig wandelndes modulares Bühnenbild gebaut hat und die opulent trashigen Kostüme (Yashi) viele Schauwerte bieten. Die Pudel-Perücke von Juliette allerdings gehört verboten.
Am Ende dreht sie den Motor ihres silbernen Cabrios auf und verzuckt vor laufender Kamera wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nicht schön und nicht sonderlich gekonnt.
Bleibt die Musik: Kirill Karabits leitet das ORF Radio-Symphonieorchester Wien umsichtig und nötigt der trockenen Akustik ein Maximum an Sinnlichkeit ab, der Funken will trotzdem nur stellenweise überspringen. Gewohnt fabelhaft, transparent, leuchtend der Arnold Schoenberg Chor. Leicht, anfangs etwas flirrend singt Melissa Petit die Koloraturpartie der Juliette, etwas mehr Substanz würde man sich hier und da wünschen, und die Koloraturen wischen etwas zu leicht vorbei. Fast ideal dagegen Julien Behr als Roméo, der leider von der Regie völlig allein gelassen wird – was ja Programm ist. Sein lyrischer Tenor hat noch Wachstumspotenzial, aber schon jetzt wunderbare Farben. Etwas kratzig dagegen Daniel Miroslaws Bruder Laurent, der Kurt Cobain verdächtig ähnlich sieht. Solide besetzt alle weiteren Partien. Fazit: Ein opulenter, doch fahriger Abend.
Regine Müller
Fotos: Monika Rittershaus


24. Februar — 01. März 2024

Mozart: Idomeneo

Lyrische Stilisierung oder Gummizelle?
1781 ist eine der Schlüsselzahlen der Münchner Operngeschichte. Damals wurde Wolfgang Amadeus Mozarts Spätjugendwerk „Idomeneo“ im Hof-, heute Cuvilliéstheater uraufgeführt. Der wurde die französisch beeinflusste Reformoper, für die Gluck nie die Melodien fand, und die Gattungsgrenzen der Opera seria vehement sprengende erste Operngeniestreich eines 25-Jährigen. Mozart ist hier so experimentierfreudig wie sonst nie mehr – indem er die alte, längst starr und hohl gewordene italienische Opera-Seria-Ordnung mit der dramaturgisch glaubwürdigeren, dem Chor bedeutenden Raum gebenden tragédie lyrique ungestüm verschneidet.
Erst seit etwa fünfzig Jahren ist „Idomeneo“ freilich endlich im Repertoire verhaftet. Erzählt wird, mit einigen Liebschaften verwoben, vom titelgebenden Kreterkönig, der nach dem Trojanischen Krieg vom zürnenden Poseidon an der Rückkehr gehindert wird, und gelobt, bei glücklicher Ankunft den ersten Menschen, dem er begegnet, den Göttern zu opfern. Natürlich ist dies sein Sohn.
Wie kann, wie soll das enden? Aktuell gibt es zwei finale „Idomeneo“-Möglichkeiten auf der Opernbühne zu bestaunen. In Genf kommt der französisch-marokkanische Star-Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui nach einer lyrisch stilisierten Inszenierung zu einem fast zynisch anmutenden Schluss, denn nach der Vergebung durch die Götter bewahrt sich die alte Ordnung: Der starrsinnige König tötet seinen Sohn und dessen Braut, hält an der Macht fest, auch wenn die keine Zukunft hat. In Köln hingegen, hier führt der vor allem in Barockwerken aktualisierte Deutungsfortüne zeigende Niederländer Floris Fisser Regie, sind Anfang und Finale klar: ein schwer traumatisierter, in der Gummizelle vegetierender Kriegsheld übergibt gezwungenermaßen den Thron an den Nachfolger; dessen junge Familie huldigen dem dann teuren Toten an der Grabstele.
Zwei extreme Interpretationsperspektiven auf ein schillernd vielseitiges Stück. Bei Sidi Larbi Cherkaoui wird schon die Ouvertüre zum sanften Gewoge von neun, in fluid faltenreiche, asiatisch anmutende Gewänder gekleidete Tänzer. Weiß leuchten sie vor schwarzem Hintergrund, rote Schicksalsfäden umschlingen sie und geben sie weiter. Solche Taue und Stricke dominieren auch das magisch minimalistische Bühnenbild der japanischen Installationskünstlerin Chiharu Shiota, die auch Schiffsskelette, Käfige, Spiralen für ihre schlichten, trotzdem äußert variablen Räume verwendet, um Wellen, Winde und Unwetter zu symbolisieren.
Cherkaoui, Tanzchef des Ballet de Grand Théâtre de Génève, führt als Regisseur wie autonomer, seine Tänzer nie die Handelnden nur verdoppelnder, eher assoziativ spiegeln lassender Choreograf den Krieg nicht expliziert vor. Er ist ja auch so im Stück präsent. Trotzdem gelingt ihm in seinen posenhaft ausgestellten Personenarrangements ein dichtes Beziehungsnetz der anrührenden Mozart-Figuren. Wobei Idomeneo (der etwas tenortrockene Bernard Richter) und sein unglücklicher Sohn Idamante (beglückend: die mezzohell intensive Lea Desandre) als schwarzbläuliche sich vogelartig plusternde Gestalten hervorstechen. So wie auch die silbrige Sience-Fiction-Prinzessin Elektra (koloraturglühend: Federica Lombardi) eine Außenseiterin ist. Giulia Semenzato gibt eine anrührende Ilia, Omar Mancini den tenorgewandt aufhorchen lassenden Vertrauten Arbace.
In Köln hat Frank Philipp Schlößmann eine bis auf kahle Felsen, etwas Sand und zwei Fahnenmasten leere Bühne entworfen, hat sich diese erstmals aus der rahmenden Gummizelle geweitet. Hier agiert kräftig der zeitgenössisch gekleidete Chor, der dauerwütende Idomeneo (der starke, vokalmächtige Sebastian Kohlhepp) hat zu seinem älteren Alter Ego auch noch sein Trauma in Gestalt eines ein Beil schwingenden Schwarzvermummten bei sich. Das ist fast zu viel der Zeichen, zumal auch hier Götter und sonstiges Übersinnliches außen vor bleibt.
Wir erleben dafür die Anatomie eines Amoklaufs, der auf dem Friedhof endet. Der ist vorhersehbar, wird aber so dicht und überzeugend gespielt, dass die Stückspannung hält. Auch dank eines homogenen Ensembles mit einer etwas mezzounruhigen Anna Lucia Richter (Idamante), einer klangsatten Ilia (Kathrin Zukowski), einer erst elegant-auftrumpfenden, dann sich hysterisch klangzerlegenden Elektra (Ana Maria Labin) und einem soliden Arsace (Anicio Zorzi Giustiani).
Wird die Zeit nach Idomeneo besser werden? Die Zeichen deuten sich so. Und auch Rubén Dubrovsky mit dem Gürzenich Orchester gelingt eine satte, bewegliche, farbenschillernde, rhythmisch und harmonisch von immer wieder überraschenden Wendungen geprägte Klangrede. In Genf bleibt der barockversierte Leonardo García Alarcón mit seiner Cappella Mediterranea und dem sie vergrößernden Orchestre de Chambre de Genève etwas geradliniger, distanzierter.
Manuel Brug
Fotos: Grand Théâtre de Genève (Großes Bild, Slider-Bilder 1-2): Magali Dougados; Oper Köln (Slider-Bilder 3-5): Sandra Then



17. — 23. Februar 2024

Der unbekannte Morricone

Mehr als Gebrauchsmusik
Filmmusik, das ist in der Klassik-Welt noch immer ein Label, dem der Makel des Zweitrangigen anhaftet. Gebrauchsmusik halt, so heißt es leichtfertig, sei eben nicht frei, sondern gebunden an die Logik bewegter Bilder und gemacht dafür, zu unterhalten und süffig auszumalen. Nicht nur historisch betrachtet, ist das Blödsinn, denn schließlich schrieben Musiker ganz früher ausschließlich Gebrauchsmusik, entweder zu geistlichen oder zu weltlichen Anlässen. Und Opern folgen schließlich bis heute mehr oder weniger stringent der Logik dessen, was auf der Bühne erzählt werden soll.
Der vor bald vier Jahren verstorbene Ennio Morricone war unbestritten ein Gigant der Filmmusik, sein ikonischer Soundtrack zu „Once upon a time in the West“ – (der deutsche Filmtitel „Spiel’ mir das Lied vom Tod“ ist zwar unsäglich, referiert aber dafür genau auf Morricones Musik) - frisst sich in den Gehörgang als Geniestreich zwischen Geräusch-Komposition, Katzenmusik und monumentaler Cinemascope-Symphonik: Jene quälende kleine Sekunde der Mundharmonika, die ineinander verschliffenen Töne einer nicht aufzulösenden Dissonanz, die sich immer weiter wälzt und deren Rätsel - auch das des minimalen Tonumfangs – sich erst im finalen Showdown des Films auf grausamst mögliche Weise lösen. Ein dramaturgischer Coup sondergleichen, und ein musikalisches Meisterwerk, das gar nicht so klammheimlich Gedankengut und Stilmittel der Avantgarde des mittleren 20. Jahrhunderts in den Soundtrack hineinschmuggelt.
Morricone war Workoholic, für etwa 500 Film- und Fernsehproduktionen lieferte er die Soundtracks. Was bis heute wenig bekannt ist: Er hinterließ auch nahezu 200 Partituren absoluter Musik. Die Erben Morricones wollen diese Musik nun zugänglich machen und haben mit der Europäischen FilmPhilharmonie (EFPI) mit Sitz in Berlin eine Vereinbarung getroffen, Morricones Vermächtnis erstmals öffentlich zugänglich zu machen. Der EFPI wurde die Entwicklung und Auswertung von Konzertprogrammen und Musiksuiten aus dem riesigen Werk exklusiv anvertraut – die Rechte betreffen sowohl die Filmmusik als auch die absoluten Kompositionen.
Die EFPI hat bislang eher im Verborgenen gearbeitet, gleichwohl bienenfleißig und höchst seriös. Seit 2000 wurden unter der künstlerischen Leitung des Dirigenten Frank Strobel zahllose Produktionen mit Film und Musik realisiert. Dabei geht es um weit mehr als um vergleichsweise simple Aufführungen von Filmen mit live gespielter Filmmusik. Sondern vor allem um subtile Produktionen mit sinfonischer Filmmusik wie etwa „Chaplin in Concert – With a Smile“ am vergangenen Wochenende im Berliner Konzerthaus, ein mitreißender Zusammenschnitt, dramaturgisch perfekt synchronisiert zur live vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Frank Strobel gespielten Musik, teils aus Chaplins eigener Feder.
Die Film- und Musikauswahl dieser Produktion besorgte Fernando Carmena von der EFPI. Am Sonntagmittag nach dem Konzert sitzt Carmena neben Giovanni Morricone, dem Sohn des Komponisten im Büro der EFPI. Morricone hat am Abend zuvor das Chaplin-Konzert gehört und erzählt, wie es zur Zusammenarbeit mit der EFPI kam: „Es war ein langer Prozess, wir trafen uns in New York und fingen an, uns kennenzulernen, als Menschen. Und was für uns wirklich wichtig war, war ihr großes Verständnis und ihre Sorgfalt, um seine künstlerische Vision in die Welt zu bringen. Das brachte uns zusammen.“
Giovanni Morricone liegt vor allem am Herzen, das bislang unbekannte Werk seines Vaters zu Gehör zu bringen und musikalisches Material zugänglich zu machen. Die Kompositionen absoluter Musik entstanden über seine gesamte Schaffenszeit, so Morricone: „Einige von ihnen schrieb er ohne Auftrag, einige schrieb er im Auftrag von Musikern, manchmal auch für Institutionen, zum Beispiel schrieb er eine „Kantate für Europa“, oder er schrieb eine „Missa“ für Papst Franziskus, mein Vater war katholisch … Mein Vater lebte mit der Musik als Sprache, um sich auszudrücken, für ihn war es ein physiologisches Bedürfnis, sich so auszudrücken. Manchmal mit Auftrag, manchmal ohne.“
Morricone Junior erinnert sich an die enorme Disziplin seines Vaters, der jeden Morgen um 5.30 Uhr aufstand und – mit Pausen – bis abends komponierte. Er berichtet von der avantgardistischen Seite seines Vaters als Mitglied der italienischen experimentellen Gruppe „Nuova Consonanza“, der die Darmstädter Ferienkurse besuchte und mit vielen Formen von musikalischer Sprache arbeitete. Er habe viel Kammermusik komponiert, aber auch eine Oper „Parthenope“, die noch immer auf ihre Uraufführung warte. Auf die Frage nach unerfüllten Träumen seines Vaters antwortet Morricone, dass es ihn wohl immer etwas bekümmert habe, in der Welt der Klassik nicht wirklich anerkannt gewesen zu sein.
Das wird sich nun möglicherweise ändern. Fernando Carmena arbeitet daran, er ist Kreativdirektor bei EFPI, studierte erst Kunstgeschichte mit Fokus auf Film und Musik, später dann Musik und kam zur EFPI, um dort in Kommunikation mit beauftragenden Orchestern thematische Programme zu erfinden.
Mit Morricones Film-Musik hatte er bereits vor der Begegnung mit der Familie Kontakt, aber es waren „nur Arrangements“, wie er sagt, „sie klangen nach Williams oder Mancini. Ich machte mich dann an Transkriptionen, aber das waren auch nur Transkriptionen, und dann kriegten wir einen netten Brief von Morricones Anwalt“.
Man war sich schnell einig, dass auch die EFPI nicht nur an den bekannten Film-Hits interessiert ist, sondern „wir wollten den unbekannten Morricone“. So kam es zu dem Deal. Carmena sieht eine enge Beziehung und Wechselwirkung zwischen beiden Welten in Morricones Musik: „Seine Filmmusik änderte sich, und seine absolute Musik änderte sich, aber sie haben sich oft getroffen. Zum Beispiel die Musik von „Novecento“, ein Film von Bernardo Bertolucci, eines der Stücke ist tatsächlich ein Rückblick auf ein Konzertstück aus den 1950er Jahren. Das Avantgarde-Vokabular findet man in seiner absoluten Musik, und das gleiche Vokabular findet man in vielen seiner Filmmusiken, die er in den späten 1960er und 1970er schrieb, da findet sich eine Menge aleatorischer Musik, Atonalität, Dissonanz, er verstand, dass es Musik jenseits der Noten gibt, das ganze Universum der Klänge, durchaus im Sinne von John Cage.“
Die EFPI arbeitet nicht an einer historisch-kritischen Edition der Werke Morricones, das wäre aufgrund der tausendfachen motivischen Vernetzungen zwischen beiden Welten eine aussichtslose Aufgabe - sondern vielmehr daran, seine Werke für den Konzertsaal zu erschließen. Für Fernando Carmena ist Ennio Morricone eine singuläre Erscheinung in der Musikwelt: „Anders als Komponisten seiner Generation, die für ihre Filmmusik bekannt wurden, wie etwa John Williams oder Leonard Bernstein, die ihre Wurzeln mehr in der mitteleuropäischen Spätromantik hatten, war Morricone ein Enzyklopädist der späten Renaissance und des frühen Barocks. Und dann war er ein Komponist des zeitgenössischen Stils, das ist in seiner DNA, und das macht ihn sehr einzigartig. Er hat diese Basis im Barock und der späten Renaissance und dann eben das Zeitgenössische.“
Regine Müller


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