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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Johann Sebastian Bach

Weihnachtsoratorium Kantaten 1 - 3

Leopold Lampelsdorfer, Thomas Riede, Jan Hübner, Goerg Lutz, Holger Eichhorn, les hautboїstes de prusse

Querstand/Codaex VKJK 1238
(76 Min., 9/2012)

Jenseits allen Medienrummels ereignete sich beim Label „Querstand“ kurz vor Weihnachten noch eine kleine Sensation. Es erschien das erst im September 2012 eingespielte allererste Weihnachtsoratorium in minimaler Besetzung, und mehr noch: mit einem „echten“ Knaben (und nicht einem bloß knabenhaft klingenden Sopran) an der Spitze der Sängercrew. Folgerichtig wird die Altlage von einem Altus vertreten: Beides – der Knabensopran sowieso, aber auch der falsettierende Mann – lässt sich für Bachs Leipziger Praxis belegen. Auf der Quellenlage basiert denn auch des Dirigenten Holger Eichhorns „Apologie“ seines gesamten Interpretationsansatzes, dargelegt von ihm selbst im Beiheft; besetzungstechnisch lautet die einfache Formel: Es gibt 21 überlieferte Stimmen, also singen und spielen 21 Musiker.
In der Fachwelt sind, was die Besetzungsstärke des Bach-Ensembles angeht, die Fronten schon lange verhärtet. Glücklicherweise wird heute in der Regel nicht mehr der Einsatz riesiger Oratorienchöre und ausgewachsener Sinfonieorchester diskutiert, aber die Frage nach entweder einer oder aber drei bis vier Personen pro Part ist de facto auch nicht ganz ohne. Holger Eichhorn folgt mit seiner Entscheidung der angelsächsischen, oft als „positivistisch“ verunglimpften Linie (21 überlieferte Notenblätter, also 21 Personen) und reüssiert damit gleich in der ersten Nummer: „Jauchzet, frohlocket“ präsentiert sich in absoluter Ausgewogenheit aller beteiligten „Register“ und kommt nicht nur herzerwärmend wohlklingend, sondern auch ausgesprochen entspannt und unangestrengt daher ‒ eine wahre Freude! Das liegt freilich auch an einem Aspekt, den Eichhorn in seinen Text merkwürdigerweise nicht diskutiert: Mit rund achteinhalb Minuten „braucht“ er für diesen Satz sogar einige Sekunden länger als einstmals Karl Richter und freilich gut eine Minute länger als alle historisierend agierenden Kollegen in den letzten Jahren. Fast menuettartig gemessen tanzt hier dieser Jubelchor, und dem Rezensenten gefällt das ausnehmend gut: Dass „historisierend“ heute automatisch immer „möglichst schnell“ heißt, nervt sowohl in der Theorie als oftmals auch in der Praxis.
Um nun die Pluspunkte auf Detailebene zu benennen: Sensation Nummer eins ist der von Prof. Schmidt-Gaden persönlich präparierte Tölzer Knabe im Diskant, der eine stimmliche und interpretatorische Reife zu bieten hat, welche erahnen lässt, was später mutierende Knaben der Bachzeit zu leisten in der Lage waren. Sensation Nummer zwei: Der Oboenchor mit seiner auf ganz besondere Weise dem deklamatorischen Ideal verpflichteten Klanglichkeit und Artikulation, bedingt u. a. durch eine spezielle Art von Rohrblättern (ohne verstärktes „Herz“ im Kern). Daneben bleiben auch Fragezeichen stehen, die zumindest exemplarisch Erwähnung finden sollten: besondere Sprachnähe in den Rezitativen durch Anbringen jeder möglichen Appogiatur von oben oder von unten an jedem Phrasenende? Das klingt oft sehr uniform. Und wenn denn gerade der Einsatz von „Manieren“ (Verzierungen) so eminent wichtig ist: warum so schüchtern in den „da Capi“ der Arien? Hier beweist vor allem der munter improvisierende Continuo-Organist Torsten Übelhör Mut und Kreativität, aber die Sänger lehnen sich nicht sehr weit aus dem Fenster. Etwas gleichförmig artikuliert erscheinen auch manche Choräle: Bach hat durch seine einzigartige Harmonik die Spannungsbögen doch quasi „satzintern“ detailliert ausgestaltet, sehr textnah selbstverständlich. Müsste man dieser Spur nicht einfach nur folgen? Hier stellt sich die Frage, inwieweit Theoretikerschriften jener Tage auf das Ausnahmephänomen Bach eins zu eins anwendbar sind. Fragen über Fragen, auch noch nach dieser CD. Aber sie ist dennoch eine Glanzleistung par excellence.

Michael Wersin, 22.12.2012


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