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N° 1354
20.04. - 01.05.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Walter Levin

Märchen des Lebens

Er ist ein Mann wie ein Jahrhundert. Als Primarius des LaSalle Quartetts und als Lehrer berühmter Streichquartette ist der 85-jährige Walter Levin – Sohn einer begüterten jüdischen Familie aus Berlin – ein musikalisch-historischer Zeitzeuge ersten Ranges. Robert Fraunholzer unterhielt sich mit ihm über das Berliner Musikleben vor 1938, seine Erfahrungen in der Emigration und die Leichtfertigkeit vieler heutiger Instrumentalisten.

RONDO: Herr Levin, über 40 Jahre waren Sie Primarius des LaSalle Quartetts. Stimmt es, dass das Quartett 1946 nach einer Straße benannt wurde?

Walter Levin: Ja, es stimmt. Damals befand sich die Juilliard School noch im Norden Manhattans. Dort wohnte auch Robert Mann, der Primarius des Juilliard Quartetts, bei dem wir studierten. Wir sollten für sein Quartett einspringen. Die Agentin fragte: »Wie heißt denn das Quartett, das Sie mir da empfehlen?« Da sah er aus dem Fenster und erblickte ein Straßenschild. Es war La Salle Street, Ecke Broadway.

RONDO: Hat Sie der Zufall dieser Namensgebung nie geärgert?

Levin: Nein, obwohl wir nicht ahnten, was das für ein guter Name war. Die Franzosen sagten: »Ah, ein französisches Quartett«, und nahmen uns Ravel und Debussy ab, als sei uns dieses Repertoire in die Wiege gelegt. Man muss an die eigenen schönen Märchen glauben. Dann gehen sie auch in Erfüllung.

RONDO: Stimmt es auch, dass die LaSalle-Mitglieder stets in verschiedenen Hotels logierten, um einander aus dem Wege zu gehen?

Levin: Nicht in verschiedenen Hotels, nur auf verschiedenen Etagen. Anfangs haben wir sogar privat im selben Haus gewohnt, einige oben, andere unten. Die Hausbesitzer wohnten in der Mitte. Unsere Kollegen vom Amadeus Quartett haben auf Reisen sogar in Doppelzimmern logiert. Das ging uns allerdings zu weit. Unsere Priorität war immer: ein sehr gutes Hotel und drumrum alles mühelos. Um in bester Verfassung Konzerte zu geben, braucht es gute Laune und keine unnötigen Reibereien. Dazu gehört Distanz.

RONDO: Sie haben Deutschland 1938 verlassen. Warum nicht früher?

Levin: Ich bin in eine jüdische Familie geboren. Die Geschwister meines Vaters sind gleich 1933 nach Palästina ausgewandert. Mein Vater zögerte. Die Ungewissheiten der Ausreise beängstigten ihn. Außerdem war er als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden. Er fühlte sich als Deutscher. Also blieben wir bis zum allerletzten Moment. Wir sind den Nazis nur knapp entronnen.

RONDO: Haben Sie die »Reichskristallnacht « miterlebt?

Levin: Ja. Ich fuhr damals mit dem Autobus zu meiner Schule am Kaiserdamm. Dort befindet sich heute das Fernsehzentrum des RBB. 40 Minuten lang fuhr ich an etlichen Synagogen vorbei. Diesmal beachtete ich sie. Weil sie brannten. Ich habe es damals überhaupt nicht verstanden. Mein Vater schon. Es jagte uns genau jenen Schreck ein, der uns dazu veranlasste, allen Schwierigkeiten zum Trotz die Flucht zu ergreifen. Das war Ende Dezember 1938.

RONDO: Wie haben Sie das Berliner Musikleben damals in Erinnerung?

Levin: Sehr intensiv. Meine Leidenschaft war immer Oper und Streichquartett. Mein Stammplatz in der Berliner Staatsoper befand sich im vierten Rang – der jetzt nicht mehr existiert. Meine großartigste Erfahrung dort war Erna Berger als Königin der Nacht – und auch in Mozarts »Entführung«. Stilistisch und für die glockenreine Klarheit ihres Soprans habe ich sie sehr bewundert. Auch an Leo Blechs »Carmen« 1935 erinnere ich mich gut. Dusolina Giannini sang die Titelpartie auf Französisch. Alle anderen auf Deutsch.

»Die klingen ja wie ein einziges Instrument«: So lautet die schlimmste Kritik, die man einem Quartett zumuten kann.

RONDO: Wer war in den USA musikalisch für Sie wichtig?

Levin: Vor allem Toscanini. Seinem Manager, einem sehr liebenswürdigen Mann, haben wir dreist gesagt: »Wir sind wegen Toscanini nach Amerika gekommen.« Da durften wir heimlich für die Proben in eine Loge. Mit welch unnachgiebiger Detailfreude er von dem Orchester verlangte, so zu spielen, wie es seiner Meinung nach in der Partitur stand, war sehr lehrreich. Er war nicht pedantisch, sondern musizierte rhetorisch und eloquent. Das heutige Gerede über Toscaninis Steifheit in den Tempi ist bloßer Unfug. Wir haben die Langsamkeit durch ihn gelernt: nicht schneller zu arbeiten, als es die Sorgfalt erlaubt.

RONDO: Hat die Emigration Ihr Musikverständnis verändert?

Levin: Ja, das kann man wohl sagen. Zunächst durch die Musiker, denen ich begegnete: Felix Weingartner und Hermann Scherchen in Palästina. Mit Scherchen ging ich morgens zum Strand, um Medizinball zu spielen. »Guck dir die ›Kunst der Fuge‹ an«, sagte er mir. Ich war gerade 17. Vor allem hat die Emigration in mir den Sinn für neue Musik geweckt. Schönberg und Strawinsky wohnten damals in Los Angeles. Als das Juilliard Quartett in der Times Hall in New York erstmals das vierte Streichquartett von Béla Bartók aufführte, saß vor mir ein russischer Komponist und schrie fassungslos »Bravo«. Als ich ihn ansah, merkte ich, dass es Dmitri Schostakowitsch war.

RONDO: Der zweite Geiger des Quartetts, Henry Meyer, war in den KZs Buchenwald und Auschwitz interniert – und hat nur durch eine abenteuerliche Flucht überlebt. Hat das in Ihren Gesprächen eine Rolle gespielt?

Levin: Nein, denn Henry Meyer wollte diesen Teil der Geschichte nicht mit seiner Musikerexistenz vermischen. Erst als wir das Quartett auflösten, hat er angefangen, darüber zu sprechen. Eines Tages in Krakau kam er zum Frühstück und sagte: »Ich fahre jetzt nach Auschwitz.« Wir waren völlig konsterniert – und sind mitgegangen. So erlebten wir das Lager an der Seite eines ehemaligen Häftlings, der dort fast seine ganze Familie verloren hat. Es war grauenerregend und erschütternd.

RONDO: Sie haben inzwischen mehr Quartette unterrichtet als jeder andere. Hatten Sie immer eine bestimmte Botschaft?

Levin: Es war nie meine Absicht, eine besondere Art des Spielens auf ein Quartett zu übertragen. Im Gegenteil. So sind sehr verschiedene Quartette entstanden, die aber etwas gemeinsam haben: eine Art verantwortungsvoller Strenge gegenüber dem Werk. Immerhin kann man ein Quartett, das bei mir studiert hat, anscheinend erkennen. Meine Frau kann das. Sie sagt immer: »Wer das auch immer sein mag, dieses Quartett hat bei dir studiert.«

RONDO: Woran erkennt sie es?

Levin: An rhythmischer Strenge. Daran, dass die Beethoven’schen Metronomvorschriften eingehalten werden. Und daran, dass durchsichtig und klar musiziert wird und die musikalischen Linien deutlich werden. Also anders als in dem vermeintlichen Kompliment: »Die klingen ja wie ein einziges Instrument.« So lautet nämlich die schlimmste Kritik, die man einem Quartett zumuten kann.

RONDO: Viele jüngere Quartette sehen ihre Vorbilder in den heutigen, nicht aber in älteren Formationen. Können Sie sich das erklären?

Levin: Ja, es liegt an der traurigen Tatsache, dass sich die meisten Musiker hauptsächlich für ihr eigenes Instrument interessieren. Sie gehen in Solistenkonzerte und nach der Pause nach Hause. Kein Musiker lernt heute freiwillig eine Oper oder die Schubert’schen Liederzyklen kennen. Falls doch, hat es meistens persönliche Gründe. Auch kritisches Hören ist kaum mehr zu finden. Also braucht man sich eigentlich nicht zu wundern, wenn sich die Musiker für die Geschichte ihrer eigenen Sache nicht mehr sonderlich interessieren. Es ist schlimm, aber genauso ist es.

RONDO: Sie kommen häufig nach Berlin. Wie kommt Ihnen die Stadt heute vor?

Levin: Wenn ich durch die Miquelstraße und die heutige Pacelliallee – die ehemalige Caecilienallee – gehe, denke ich: Es hat sich erstaunlich wenig verändert. Berlin ist für mich immer noch eine sehr gut wiedererkennbare Stadt. Auch die Taxichauffeure haben sich gar nicht verändert. Ihr trockener Humor ist wundervoll. Zum Ärger meiner älteren Schwester habe ich früher gerne berlinert. Wenn ich heute durch Berlin fahre, falle ich sofort in meinen alten Dialekt wieder zurück.

Robert Fraunholzer, 12.04.2014, RONDO Ausgabe 1 / 2009



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