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N° 1355
27.04. - 04.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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Das Ensemble Musikfabrik erinnert an die Komponistin, Pianistin und Instrumentenerfinderin Lucia Dlugoszewski © Erick Hawkins Dance Foundation

Pasticcio

Man höre, sehe – und staune!

Ein Konzertbesuch sollte schon etwas zu bieten haben. Vor allem Musiker aus Fleisch und Blut, denen man dann etwa bei der schweißtreibenden Oktaven-Prestissimo-Sause staunend zuschauen kann. Aber wenn auf dem Podium nichts anderes zu sehen ist als ein paar turmhohe Lautsprecher, dann kann die Enttäuschung riesig werden. Wie damals im Jahr 1956, als im Kölner Sendesaal des WDR Stockhausens epochaler elektronischer „Gesang der Jünglinge“ uraufgeführt wurde – und das Publikum ziemlich empört auch auf die anonymen Schallquellen reagierte.
Dabei kann ein Lautsprecher genauso eine Seele haben wie ein menschliches Wesen. Davon war schon vor genau 50 Jahren der französische Komponist François Bayle überzeugt. Zum Beweis gründete Bayle das Lautsprecherorchester „Acousmonium“, bei dem die „Persönlichkeit“ eines jeden Lautsprechers und seine Aufstellung im Mittelpunkt stehen. Und um seine Klangraum- und Raumklang-Wirkungen immer wieder neu auszuloten, schreiben bis heute nicht nur Bayle, sondern international renommierte Komponisten für dieses etwas andere Orchester. Anlässlich des 50. Geburtstages des „Acousmonium“ hat nun das auf die Gegenwartsmusik spezialisierte Berliner Festival „MaerzMusik“ die Pariser Strippenzieher samt ihrer Lautsprechermannschaft zu einem großen Abend voller elektroakustischer Klänge eingeladen. Und zu hören sind neben Klassikern der elektronischen Musik u.a. von Iannis Xenakis und Luc Ferrari auch brandneue Stücke wie „8 Views of a Secret“, des Gitarristen Jim O’Rourke.
Der Auftritt des „Acousmonium“ ist aber nicht das einzige audiovisuelle Highlight bei der diesjährigen „MaerzMusik“ (15. bis 24. März) . So setzt etwa das Kölner Ensemble Musikfabrik seine Würdigung der heute in Vergessenheit geratenen Komponistin, Pianistin und Instrumentenerfinderin Lucia Dlugoszewski fort. Die im Jahr 2000 verstorbene Musikerin hatte bei Edgard Varèse und John Cage studiert und mit ihrem Klavierspiel auch Schönberg beeindruckt. Und daneben entwarf sie über hundert Instrumente, von denen einige jetzt von Musikfabrik-Mitglied Thomas Meixner rekonstruiert wurden.
Ebenfalls ziemlich aufwendig wie augen- und ohrenöffnend ist die Neuinszenierung von Stockhausens „Musik im Bauch“, bei dem das Uraufführungsteam von Les Percussions de Strasbourg in einer szenischen Fassung des Komponisten Simon Steen-Andersen auftritt.
Bei der „MaerzMusik“ kommen aber selbstverständlich auch konservative Konzertgänger auf die Kosten. Wie im Fall des Programms mit dem EnsembleKollektiv Berlin, das unter der Leitung von Enno Poppe u.a. Helmut Lachenmanns „Mouvement (– vor der Erstarrung)“ spielt. Ein Auftritt hingegen dürfte selbst die eingefleischsten Neue-Musik-Fans überraschen. Denn wann hat man schon mal Werke von Heiner Goebbels oder Philip Glass auf einem Dudelsack gehört!?

Guido Fischer



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