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N° 1355
27.04. - 04.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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Visionen von immensem Licht und unwahrscheinlicher Farbenpracht: Unsuk Chin erhält den Ernst-von-Siemens-Musikpreis © Rui Camilo/EvS

Pasticcio

Klangfarbenprächtige Träume

1985 war Unsuk Chin 24 Jahre alt und natürlich voller Tatendrang und Abenteuerlust. Und obwohl sie bereits einige Kompositionspreise gewonnen hatte, wollte sie sich unbedingt den letzten Feinschliff in Hamburg beim Neue Musik-Granden György Ligeti holen. Doch kaum hatten sich beide das erste Mal getroffen, muss Ligeti wieder einmal seine berühmte „Motzmiene“ (Unsuk Chin) aufgesetzt und seine zukünftige Studentin auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt haben: „Ligeti sagte zu mir, alle meine Kompositionen wären unoriginell und ich sollte sie lieber wegwerfen.“ Das saß. Die nächsten drei Jahre konnte Chin keine Note mehr zu Papier bringen. Trotzdem blickt sie heute nicht im Groll auf ihre Hamburger Jahre zurück. Immerhin verband sie mit ihrem schonungslosen Lehrer der grundlegende Zweifel an einer fortschrittsgläubigen Musik-Avantgarde: „So viele Dinge, von denen wir glauben, wir hätten sie erfunden, existieren bereits - in der frühen europäischen wie in der nichteuropäischen Musik.“
Das musikalische Rad will Unsuk Chin seitdem nicht mit aller Macht neu erfinden. Sie bekennt sich offen zu den Einflüssen, die die westliche Klassiktradition und fernöstliche Volksmusik auf ihr Schaffen ausgeübt haben. Und damit hat sie es zu einer gewichtigen Stimme innerhalb der Neuen-Musik-Szene gebracht. Von Simon Rattle, dem Kronos Quartet und dem Ensemble Modern werden ihre Stücke aufgeführt. Und 2007 wurde ihre von Kent Nagano in München dirigierte Oper „Alice in Wonderland“ gar zur „Uraufführung des Jahres“ gewählt. Zur wohl wichtigsten Stufe auf der Karriereleiter wurde ihr Violinkonzert, das 2002 in Berlin aus der Taufe gehoben wurde. Nicht nur wurde es danach fortan rund um den Klassik-Globus gespielt (was für ein Stück Gegenwartsmusik nun wahrlich unüblich ist!). 2004 erhielt Unsuk Chin für ihren konzertanten Coup den „Nobelpreis für klassische Musik“ verliehen – verbunden mit einem Geldregen von 200.000 Dollar! Die Jury des amerikanischen „Grawemeyer Award for Music Composition“ attestierte dem knapp halbstündigen Werk eine „glitzernde Orchestrierung“, „exklusive Klänge“ und einen „impulsiven Ausdruck“. Unter dem Strich „verblüfft die Musik und zeigt unerwartete Wendungen.“
Jetzt aber wurde bekannt, dass die aus Seoul stammende Komponistin nach dem amerikanischen auch schon bald den europäischen Musiknobelpreis verliehen bekommen wird. Am 18. Mai kommt es in der Münchner Residenz zur feierlichen Auszeichnung mit dem Ernst von Siemens Musikpreis , der mit 250.000 Euro dotiert ist. Die Laudatio auf Unsuk Chin hält Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie. Das Ensemble intercontemporain spielt unter der Leitung seines neuen musikalischen Direktors Pierre Bleuse Werke der Preisträgerin – die übrigens gerade an ihrer zweiten Oper sitzt, die 2025 an der Hamburger Staatsoper uraufgeführt werden wird.
Als „Abbild meiner Träume“ mit all den „Visionen von immensem Licht und unwahrscheinlicher Farbenpracht“ hat Unsuk Chin einmal ihre Werke bezeichnet. Hört man die Musik der 62-Jährigen, möchte man sie ein wenig um ihre Träume beneiden.

Guido Fischer



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