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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



Startseite · Interview · Gefragt

(c) Hal Buksbaum

Russell Oberlin

Mühelose Höhen

Fast vergessen ist heute dieser Alt-Sänger, der sich auf ein phänomenal hohes Brustregister verlassen konnte. Erstmals wird nun sein musikalisches Erbe erlebbar.

Die Geschichte des Singens, soweit sie heute auf Tonträgern nachvollziehbar ist, stellt sich für Kennerinnen und Kenner mit zunehmender Hörerfahrung mehr und mehr als ein flechtwerkartiges Miteinander zahlreicher stimmlicher Individualitäten, ja Identitäten dar. Eingruppierungen in Fächer oder Genres können nur ganz grobe Orientierung geben. Wer sich aber tiefer hineinhört in das, was eine einzelne Gesangsstimme von Natur aus mitbringt und wozu sie sich mit technischen Mitteln kultivieren lässt, der wird immer auf den Menschen und die Biografie hinter der vokalen Darbietung stoßen. Russell Oberlins Weg begann in Ohio, wo er als Nachkomme elsässischer Einwanderer 1928 zur Welt kam, und seine stimmliche Begabung trat schon im Knabenalter deutlich zutage.
Sein Studium in New York, an der renommierten Juilliard School, beendete er als „lyrischer Tenor“, aber eben dieses Stimmfach sollte nicht seine zukünftige Laufbahn bestimmen. Oberlin entdeckte nämlich, dass er, ausgehend von der Tenorlage, ungewöhnlich weit nach oben zu singen vermochte, ohne ins Falsett wechseln zu müssen. Er konnte also die Alt-Lage erreichen, ohne ein „Altus“ im heutigen Sinne zu sein; vielmehr würde man seine Tenor-basierte Art des Hoch-Singens heute in den Bereich des „Haute-contre“, jener im französischen Barock verlangten hohen Tenorstimme verorten.

Mehr zum Thema im RONDO-Podcast „Notenköpfe“

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Als Mann in Alt-Lage singen – für diese Kunst gab es in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht sehr viele Betätigungsfelder im Mainstream-Musikleben. Dass Russell Oberlin dennoch bereits Anfang der 50er Jahre mit seiner „besonderen“ Art zu Singen auf Resonanz stieß, hat mit dem Chorleiter Noah Greenberg zu tun, der ein kleines Ensemble namens „New York Pro Musica Antiqua“ zusammenstellte. Musik des Mittelalters, der Frühneuzeit und der Renaissance standen auf den Programmen der Gruppe, die in der Oberlin-Box der „Deutschen Grammophon“ reichhaltig repräsentiert sind: Ein sehr atmosphärisches Arrangement des „Ludus Danielis“ aus dem 12. Jahrhundert, englische Ayres, Madrigale und Tänze aus Elisabethanischer Zeit oder geistliche Musik von Thomas Tallis wurden Ende der 50er Jahre von „New York Pro Musica“ (das „Antiqua“ hatte man inzwischen gestrichen) für die Schallplatte eingespielt. Liebevoll wurden diese Aufnahmen nun für die CD-Box in die ursprünglichen Cover, auf CD-Format verkleinert, gehüllt. Von hier aus spannt sich der Bogen über Oberlins Händel-Arien-Rezital (es war als Einzel-CD in historischem Gewand schon einmal 2007 wiederveröffentlicht worden) bis hin zu einer Lieder-CD, deren Repertoire von hochmittelalterlichen Gesängen über Purcell, Schumann, Wolf bis hin zu Songs aus Musicals und Filmen reicht, die hier erstmals veröffentlicht werden. Immerhin erstmals auf CD zu hören ist William Waltons „Façade“ nach Gedichten von Edith Sitwell, ein skurriles „Entertainment“ für „Reciter and Chamber Ensemble“.
Alles in allem vermittelt diese stilistisch breit gefächerte Würdigung ein lebendiges akustisches Bild von Kunst und Können eines Außenseiters mit klar konturiertem stimmlichem Profil, der nach seiner nicht allzu langen Gesangskarriere noch als Gesangspädagoge die da erst beginnende Erfolgsgeschichte seines Stimmfachs verfolgte und begleitete.

Neu erschienen:

The Complete Recordings On American Decca

Russell Oberlin

9 CDs, DG/Universal

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Michael Wersin, 09.12.2023, RONDO Ausgabe 6 / 2023



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