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N° 1355
27.04. - 03.05.2024

nächste Aktualisierung
am 04.05.2024



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(c) Erio Piccagliani/Teatro alla Scala

Maria Callas

Primadonna assolutissima

Die größte Sängerin und radikalste Wahrheitssucherin der Opernbühne wurde vor 100 Jahren in New York geboren.

Sie öffnete beim Singen kaum den Mund, verwehrte den Blick auf die innere Glut. Und sobald sie den Ton angeschlagen hatte, löste er sich auf unerklärliche Weise von ihr, wurde mächtig, füllte den Raum bis in den letzten Winkel, wurde selbst zum Raum, zur heiligen Zone zwischen ihr und der Welt. So tönte kein schwaches Weib, das waren vielmehr die Posaunen von Jericho, der eklatante Versuch, die natürlichen Grenzen der weiblichen Stimme zu überschreiten, die Totalität des menschlichen Ausdrucksspektrums zu beschwören.
Maria Callas wurde vor hundert Jahren in New York geboren und beherrschte die Opernwelt knapp 15 Jahre lang bis zu ihrem Rückzug im Juli 1965. In den magischen Räumen ihres akustischen Museums aber erstrahlt sie lebendiger, präsenter, überlegener denn je. Und so beginnen viele, die früher herumgemäkelt haben an ihrer „unausgeglichenen“ Stimme, ihren Primadonnen-Allüren, ihrem „skandalösen“ Leben, erst jetzt, da die Götter sich abgewendet haben vom singenden Menschen, den Verlust zu begreifen. Allmählich dämmert es all diesen Vokal-Technokraten, dass die Callas mehr war als eine schrille Operndiva, und auch mehr als die „primadonna assoluta“ ihres Zeitalters: dass sie ein wirkliches Medium war, das „letzte Märchen“ in einer restlos entzauberten Zeit. Ein in seiner künstlerischen Potenz letztlich unbegreifliches Wesen, das einer vom Krieg verwirrten, seelisch verkümmerten Generation mehr Kunst, mehr Schönheit und Wahrheit geschenkt hat als irgendein anderer Mensch. Und so hüte man sich davor, Leonard Bernsteins lapidare Feststellung, sie sei „die größte Künstlerin der Welt“, im Nachhinein als Primadonnen-Schmeicheleien eines anderen Musik-Besessenen abzutun.

Das Ende weiblicher Opferrollen

Die Wahrheit scheint immun zu sein gegen die Zeitläufte. Vor allem dann, wenn es sich um die Wahrheit über den Menschen handelt, um wahrhaftige Einblicke in die Tiefe der Seele. Maria Callas, das steht heute, 46 Jahre nach ihrem frühen Tod, außer jedem Zweifel, war nicht nur die alles überragende Operndiva des 20. Jahrhunderts, sondern die radikalste Wahrheitssucherin, die je die Gesangsbühne betreten hat. Die Callas beanspruchte stets das Ganze, die Totalität der Empfindungen, und suchte mit selbstzerstörerischer Emphase bis in die Wurzel jeder Phrase, jedes einzelnen Tones, nach dessen dramatischem Sinn, seinem Wahrheitsgehalt. Sie hielt bis zuletzt vehement daran fest, dass Kunstgesang grundsätzlich nur der glaubhaften Darstellung des menschlichen Seelenzustandes zu dienen habe. Musik ohne konkretes emotionales Motiv, ohne den inneren Antrieb des Schmerzes oder der Leidenschaft, war für sie nicht denkbar.
So demolierte sie die zuvor mehr als zweihundert Jahre lang geltenden Gesetzte der weiblichen Gesangsästhetik, die für Frauen nur Opferrollen vorsah, und kreierte ihren eigenen, radikalen und emanzipatorischen Begriff von Schönheit. Sie durchflutete die alten Opernfiguren mit ihrer archaischen Zauberkraft, ihrem furchterregenden Gestaltungswillen, ihrem Sirenenton, und verlieh ihnen gültige, dauerhafte Größe. Das Kunstschöne hatte sich fortan in den Dienst des Wahren zu stellen, und wenn nötig, sogar das Kranke und Böse zu kultivieren: Ihre Lady Macbeth war das Manifest dieses Durchbruchs, dieser neuen Ästhetik, und sie blieb damit bis heute unerreicht. Und so kreierte sie in all ihren Rollen gültige Menschenbilder für die Ewigkeit.
Man nenne mir eine ihrer vielen Bühnenpartien, in der sie nicht die stärkste Lösung gefunden hätte, die Interpretationsgeschichte jäh abbrechend. Man nenne mir eine Lucia, eine Norma, eine Tosca, eine Violetta, eine Medea, eine Leonora, eine Elvira oder Rosina oder wie ihre einzigartigen Schöpfungen noch alle heißen, die authentischer waren als die der Callas. Dabei hat sie das feste Muster der weiblichen Opferrolle in der Oper des 19. Jahrhunderts von innen aufgebrochen, sie aus der verordneten Leidens-Passivität gerissen, und selbst solche Unschuldslämmer wie Gilda, Mimì oder Aida mit Widerstandskraft ausgestattet.
Heute, sechs, sieben Jahrzehnte später, entpuppt sich gerade dieser zutiefst emanzipatorische Grundzug ihrer Frauenentwürfe, ihre revolutionäre Neu-Interpretation einer unendlichen weiblichen Leidensgeschichte zunehmend als das entscheidende Kriterium für die unverminderte Kraft, Aura und Aktualität ihrer vokalen Schöpfungen – und als Garant für ihre eigene Unsterblichkeit.
Wir können nur froh sein, dass es so viele Aufnahmen gibt, die ihre Kunst ein für alle Mal festgehalten haben. Und dass auch die verantwortlichen Labels das begriffen haben. Denn nur so war es möglich, dass ihr Dämon überleben konnte, und noch heute den Maßstab setzt in so vielen Opern: Er ist gefangen und geschützt im imaginären Museum der Schallplatte, zugänglich für jeden, der sich von seinen humanisierenden Kräften verzaubern, erschüttern, läutern lassen will. Und je weiter wir uns von ihren Lebensdaten entfernen, desto stärker lodert das Feuer ihrer Gestaltungskunst aus diesen Dokumenten.

Neu erschienen:

La Divina – Maria Callas In All Her Roles. Complete Studio and Live Recordings, 1949-69

Maria Callas

134 CDs, 3 Blu-rays, DVD-ROM – Warner

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Attila Csampai, 25.11.2023, RONDO Ausgabe 6 / 2023



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