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N° 1356
04. - 10.05.2024

nächste Aktualisierung
am 11.05.2024



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Unterm Strich

Ramsch oder Referenz ? CDs, vom Schreibtisch geräumt.

Armer, großer, alter Tenor! Jetzt hat man Roberto Alagna, dem Sänger mit dem doch nicht ganz unverwüstlichen Schmetter-Potential und den unerschrockenen Portamento-Tränen, zur Verwirklichung seines Lieblingstraums ein tatsächlich ziemlich suboptimales Orchester zur Seite gestellt: Als sei er ein Anfänger, der sein erstes Solorecital präsentieren darf. Das hat Alagna nicht verdient! Erst recht nicht die neunzehn Opernschnulzen und -Schlager, die er vorstellt aus dem großteils abgesunkenen Repertoire seines großen Vorbildes: „Caruso 1873“ (Sony). Das Orchestre National d’Ile-de- France unter Yvan Cassar korrepetiert, Alagna verströmt sich. Nuancen sind seine Sache nie gewesen, er verlangt sie auch hier nicht von sich. Das ist auch gut so, wie zu merken in Nadirs „Perlenfischer“-Ständchen, darin er ausnahmsweise mit dem Falsett kokettiert. Wie intonationssicher Alagna aber nach wie vor auftritt, das zeigt sich in den zwei Nummern, in denen ihm Aleksandra Kurzak beisteht.

Auch der Pianist Markus Becker hat sich einen Traum gegönnt: Er improvisiert. Im Beiheft seines ersten Jazz-Albums „Freistil“ (Berthold Records/ Cargo), aufgenommen im alten Sendesaal von Radio Bremen, erzählt er, was er sich dabei gedacht hat. Auch Becker ist, ganz wie Alagna, dem Wortlaut zufolge vom eignen Tun hoch begeistert. Doch ansonsten gibt es nichts, was vergleichbar wäre, zumal in Bezug auf den Materialstand. Der Steinway tönt klar und kühl, wie ein Schwarzweißfilm. Becker bleibt Becker. Er hat sich weder neu erfunden, noch muss er sich oder sonstwem irgendetwas beweisen. Schon seit Jahren ist er mit gemischten Klassik- Jazz-Programmen unterwegs („Kiev-Chicago“, Dreyer-Gaido). Seine neuen Freistil-Titel stehen für sich, kurz und bunt und zeitlos. Anfangs unterschätzt man das. Man denkt sich: prima Barmusik, fürs Nebenbei- und Zwischendurch- Hören. Doch je länger und öfter man das hört, desto schwerer und tiefer werden diese Stücke, eine Komplexität, die sich allmählich entfaltet.

Ein Riesenrummel war das, in Bremen, an Sankt Petri, als dieses apokryphe, vom Komponisten bekanntlich selbstkritisch den Flammen überantwortete Jugendwerk wieder auftauchte und zum Klingen kam: die Messe Solennelle von Hector Berlioz. Staunend standen wir damals, 1993, vor diesem „Wunder“, wie John Eliot Gardiner es nannte. Zwanzig Jahre jung war Berlioz, noch ein Student, als er dieses gewaltige Machwerk in Paris vorstellte, in dem er alles, was man ihn am Konservatorium lehrte, über den Haufen komponiert. Pure Kühnheit der Erfindung, ein Hochamt voll Kraft und Ausdruck, mit rhythmisch unwuchtigem Chorgeschrei, lyrischem Zauber, zugleich Erinnerung an die Gesetze der Alten und Steinbruch für Späteres: Die „Symphonie fantastique“ tönt schon heraus, der Römische Karneval, Benvenuto Cellini und anderes mehr. Die Aufnahmegeschichte der Messe Solennelle war allerdings mit Gardiner auch schon wieder beendet, sieht man ab von zwei mäßigen Mitschnitten. Jetzt hat Hervé Niquet mit seinem Concert Spirituel das Stück zum zweiten Mal wieder entdeckt oder vielmehr, es erst richtig frei geschaufelt (Alpha/Note 1). Die dramatische Architektur wird hörbar. Ein Wunder an Transparenz, bei schnellen Tempi, klaren Konturen. Beste, wichtigste Neuaufnahme in diesem mageren Berlioz-Jahr, ein Must-Have.

Fast so viele Lieder wie Franz Schubert hat Hanns Eisler hinterlassen. So reich die Stilistik, so fantastisch die Ausdrucksformen und -farben, so viele Entdeckungen stehen noch aus: Warum ist jetzt schon Schluss mit dieser mehrfach preisgekrönten Edition von Holger Falk und Steffen Schleiermacher? Ist das Geld ausgegangen? Wird ein Sponsor gebraucht? Schon mit dem ersten Album hatten die beiden das dogmatische Eisler-Bild neu befragt, mit Akribie, Eleganz und kontrollierter Leidenschaft. Das letzte, „Lieder Vol. 4“ (MDG/Naxos) wirft ein Licht auf Eislers Anfänge: Von den Antikriegsliedern des sechzehnjährigen Soldaten bis zu den zwölftönigen Liedern op. 2 und den skandalös scharf geschneiderten Zeitungsausschnitten von 1927.

Eleonore Büning, 07.12.2019, RONDO Ausgabe 6 / 2019



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