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27.04. - 03.05.2024

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am 04.05.2024



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Finnland

Vielfalt im Sibelius-Jahr

Der hohe Norden hat nicht nur den weltweit größten Output an großen Musikern. Er bietet auch viele kleine und größere, immer feine Festivals.

Das dünn besiedelte Land im hohen Norden mit seinen tausenden Seen und Wäldern, seinen langen Wintern und kurzen Sommern spielt in der Musikwelt eine herausragende Rolle. Nirgendwo sonst wachsen prozentual so viele Musiker von Weltrang heran wie dort. Dirigenten wie die legendäre Dynastie der Järvi-Familie, große Instrumentalisten wie der Pianist Olli Mustonen und charismatische Sängerpersönlichkeiten wie Matti Salminen. In der Zunft der Tonsetzer ist bis heute Jean Sibelius die prägende Gestalt, dessen 150. Geburtstag in diesem Jahr überall in Finnland gefeiert wird. Nicht umsonst lautete der Titel der Autobiografie des 1999 gestorbenen Komponisten Einar Englund „Im Schatten von Sibelius“.
Der hoch gehandelte Geiger Pekka Kuusisto, der in der Nähe von Helsinki ein eigenes Festival rund um den See veranstaltet, an dem auch Sibelius’ abgeschiedene Residenz Ainola liegt, spürt ebenfalls eine starke Sibelius-Tradition und fühlt sich selbst schicksalhaft verbunden mit dem Meister: „Als finnischer Geiger kennt man das Sibelius-Konzert in und auswendig, bevor man jemals die Noten gesehen hat. Sibelius ist in Finnland omnipräsent, vor allem in diesem Jahr. Und ich wäre ohne Sibelius sicher nicht da, wo ich heute bin: 1995 habe ich den Sibelius-Wettbewerb gewonnen, kurz darauf eine Aufnahme des Konzerts mit Leif Segerstam eingespielt, woraufhin mich sofort ein internationales Management in London unter Vertrag nahm.“

Wechselgesang und Wollfäden

Kuusistos Festival bringt vorwiegend kleine Spielstätten zum Klingen: die typischen finnischen Holzkirchen, Kammermusiksäle, Schulen und Privathäuser. In der Tuusula Combat School etwa tritt abends das Frauenstimmen- Ensemble „Philomela“ auf – Chor wäre wirklich nicht das richtige Wort! – und überrascht mit einer Performance, die locker zwischen uralten Wechselgesängen und Geräusch-Deklamationen pendelt, Tanz und Spiel im Dialog mit dem Publikum integriert und nicht im Mindesten prätentiös wirkt. Gleiches gilt für den Dialog, den Kuusisto tags darauf mit dem Jongleur Jay Gilligan führt: Das Spiel mit Bällen und bunten Wollfäden korrespondiert ganz natürlich mit Kuusistos durch Improvisationen angereichertem Spiel, das sich durch den Einsatz eines Samplers in Loops fortsetzt. Es gibt natürlich auch „normalere“ Programme mit Musik von Sibelius und Nielsen und internationalen Gästen wie Nicolas Altstaedt am Cello, aber auch bei den Experimenten sind die Säle voll und der Altersdurchschnitt erfrischend jung. In Finnland geht man lässig ins Konzert, aber nicht betont nachlässig, wie bisweilen in den coolen Metropolen Mitteleuropas. Statt Blumen gibt es bei Kuusistos Festival am Schluss jeweils eine frische Möhre für die Künstler. Das spricht Bände.
Trotz des Erfolgs seines Festivals ist Kuusisto dennoch besorgt über die Situation in Finnland, die nationalistischen Tendenzen und das Missverständnis, Sibelius und seine Freunde zu vereinnahmen: „Sibelius und all die Künstler und Maler rund um den See waren eine Gemeinschaft. Aber sie waren künstlerisch beeinflusst von Europa, von Paris, Berlin und Wien. Das war kein Nationalismus der geschlossenen Türen, so wie das heute viele Finnen befürworten!“

Musikalisches Slow Food

Weiter im Osten gibt es ein weiteres Kammermusikfestival, das rund um das Dorf Joroinen von der Sängerin Mia Huhta und Geiger Teppo Ali-Mattila organisiert wird. Auch dort werden Kirchen und kleine Säle bespielt, das Besondere aber hier im Osten, unweit der russischen Grenze sind die Herrenhäuser, die von ihren Bewohnern nur für Konzerte des Festivals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Für die beiden Macher ist das Wichtigste, dass die Orte und die präsentierte Musik zusammen passen. „Die Beziehungen sind entscheidend. Wir machen so etwas wie „Slow Food“ in der Musik.“ Auch hier gibt es keinerlei Berührungsängste: Abends gibt es im winzigen Flughafengebäude von Varkaus finnische Tango-Musik und westlichen Swing mit dem hinreißenden Entertainment-Orchester „Dallape“, am nächsten Mittag in der Kirche von Juva spätromantische Lieder von Strauss und Sibelius mit Camilla Nylund und Helmut Deutsch. Und südlicher, an der karelischen Seenplatte endet am gleichen Abend das berühmte Opernfestival von Savonlinna in der mittelalterlichen Burg Olavinlinna mit einem Sibelius-Festkonzert mit dem Lahti Symphony Orchestra unter der Leitung von Altmeister Okku Kamu.
Woher kommt das finnische Musikwunder? Mia Huhta weiß darauf eine erstaunliche Antwort: „Wir sind eine ängstliche, schüchterne Nation, umso wichtiger ist ein reiches inneres Leben. Alles wird bei uns eher aus der Stille heraus entwickelt. Für schüchterne Menschen ist es schwierig, sich mit Worten auszudrücken, aber in der Musik kann man sehr offen und präzise sein.“

http://www.ourfestival.fi/eng/
http://www.joroistenmusiikkipaivat.fi
http://www.operafestival.fi/en

Exportartikel Nr. 1

Die Organisation „Music Finland“ will finnische Musik und die Aktivitäten finnischer Musiker künftig noch bekannter machen und setzt neben einem internationalen Netzwerk und Marketing-Maßnahmen vor allem auf lückenlose Kommunikation. Auf der Webseite www.ausfinnland.de kann man sich auf Deutsch informieren, wo in Deutschland, Österreich und der Schweiz gerade finnische Musik oder finnische Musiker zu erleben sind. Erfasst wird die ganze Breite des Musiklebens vom Pop bis zur Avantgarde, Kalender und Landkarte erleichtern den Überblick, zudem gibt es kurze, prägnante Künstler-Porträts. Ein Newsletter hält zusätzlich auf dem Laufenden.

Regine Müller, 05.12.2015, RONDO Ausgabe 6 / 2015



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