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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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César Franck, Ernest Chausson

Sinfonische Variationen, Violinsonate, Konzert op. 21

Zino Francescatti, Robert Casadesus, Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy

Sony 5033852
(77 Min., 5/1947, 12/1954, 11/1958) 1 CD

In Zeiten der Krise werden selbst große Musikerpersönlichkeiten nur noch selten in ausladenden Editionen gewürdigt. So ist es mehr als überraschend (und erfreulich!), dass sich die Sony dreißig Jahre nach seinem Tod entschlossen hat, Robert Casadesus eine Edition in (bisher) 21 Folgen zu widmen, die sein diskografisches Lebenswerk recht umfassend ausbreitet. Dieser 1899 in Paris geborene Künstler entzieht sich dem Hörer, der sich von biografischen Bizarrheiten und mitfühlbarer Emotionalität eines Musikers gerne gefangennehmen lässt, nüchtern-radikaler als jeder andere große Pianist des vergangenen Jahrhunderts. Casadesus wirkt unnahbar. Er ist der Priester der Beherrschtheit, Ratio und Klarheit, vielleicht der französischste aller französischen Musiker.
Sein Lehrer Louis Diémer, der "Vater" der französischen Schule, war der wichtigste Prophet eines glasklaren Fingerspiels, dem Arm und Schultern gleichsam unbewegt beizuwohnen hatten, eines Drills rhythmisch exakter Artikulation. Dieser heute ausgestorbene Stil des Pariser Conservatoire war stark geprägt von Diémers bahnbrechendem Interesse am Clavecin. Ein unfehlbares "jeu perlé" gab er seinen Schülern mit, eine Klarsicht, Werkarchitekturen scharfkonturiert und ohne sentimentale Verzerrung auszustellen.
Bei minderen Begabungen mündete dieser Unterricht in bleichem, dynamisch eingeebneten Perkussivspiel (die "Schreibmaschinen" vom Conservatoire), doch in Diémers zwei Meisterschülern, Yves Nat und Casadesus, traf dies unbedingte Deutlichkeitsdiktat auf vitale, athletische Temperamente und formte kraftvolle, bildhauerische Pianistenphysiognomien. Yves Nat mag auf der Schallplatte etwas spontaner wirken als der kühlere Casadesus. Man "fliegt" nicht auf Casadesus' Kunst. Man lernt sie schätzen.
Beherrschung ist ihm alles gewesen, diesem Mann, der über jeden einzelnen Tag seines Lebens kleine, mathematisch exakte Tagebuchnotizen hinterließ. Was sich nicht in knappe Formeln, seien sie sprachlicher oder musikalischer Natur, ans Tageslicht heben ließ, existierte nicht für ihn. Und nichts ging verloren. Casadesus Welt ist in wohl beispiellosem Ausmaß schattenlos. Aber mächtige Kräfte durchpulsen sie, Momente rauschhafter Entfesselung, freilich nicht in romantisch-leidenschaftlicher Bekenntnismusik, sondern in Episoden blendend virtuoser Diesseitigkeit.
Seine Aufnahme der "Sinfonischen Variationen" César Francks ist die vulkanischste Version, die ich kenne. Franck widmete das Werk Casadesus' Lehrer Diémer. So nah noch sind wir an den Quellen. Casadesus stürzt sich mit einem Furor hinein, der das Material in pure Energie zu verwandeln scheint. So scharfkantig, so rhythmisch gespannt meißelt er den oft so banalen apotheotischen Schlussmarsch heraus, dass man einmal nicht an eine Kirmesorgel denkt. Im Gegensatz zu den reinen Vertretern französischer "Digitaltechnik", deren Fortissimo immer dünn bleibt, stemmt sich Casadesus hier regelrecht in die Tastatur. Undenkbar aber, dass er dabei die Kontrolle seiner Mittel riskieren würde. Wie gesagt, keinem Tönchen ist erlaubt, in Undeutlichkeit zu sinken.
In dieser Folge wartet ein weiteres Wunder: Ernest Chaussons Konzert op. 21, ein Werk musikalischer Décadence, das man gern als parfümierte Schwelgerei bei geschlossenen Vorhängen goutiert. Casadesus scheint die Vorhänge aufzureißen, um im oft so matten Kopfsatz gemeinsam mit dem nicht minder angriffslustigen Zino Francescatti geradezu unfassliche motorische Energien zu wecken. Was bloße Klangdraperie ist, verglüht: hinter den quasi-impressionistischen harmonischen Farbwechseln der Durchführung wirken hochexpressive Linien. Hier hören wir sie. Nichts verbleibt im Dämmerlicht, dessen Nuancen er ohnehin ungern kultivierte.
Der Casadesus-Ton kapselt sich eigentümlich ab, ihm eignet etwas poliert Schimmerndes, von innen Leuchtendes, wunderbar exponiert in seinen Rameau- und Scarlatti-Aufnahmen (5033882). Kein dunkler Reflex scheint auf seine makellos-regelmäßigen Akkorde und transparenten, niemals vertrockneten oder harten Skalen zu fallen. Es ist auch der sparsame Pedalgebrauch, der seinen Klang bis ins Alter an Diémers Klasse bindet. Nirgendwo bündeln sich diese handwerklichen Tugenden klarer als in der berühmten Aufnahme des vierten Saint-Saëns-Konzertes unter Bernstein (5033972). Cortot hört das Werk viel geschmeidiger und gefälliger, salonduftender vielleicht (und, das sei allen Verächtern der Cortotschen Technik gesagt, in den schlimmen Terzpassagen sogar müheloser als Casadesus), Casadesus aber gewichtiger und männlicher. Seine intellektuelle Redlichkeit adelte alles, was er berührte. Es mag hölzerne Augenblicke in dieser Diskografie geben, aber keine unaufrichtigen, gefällig-sentimentalen.
Bei einem Künstler, in dessen stets ausgeleuchteter, rationaler Welt die dämmrigen Zwischentöne kaum Beachtung fanden, muss Debussys Musik in irritierend kühlem Helldunkel stehen (5033992). Und so gleichen viele Debussy-Préludes Eisblumen am Fenster oder auch fast grobkörnigen Zeichnungen mit harter Kontur (etwa "Les collines d'Anacapri", "Ce qu'a vu le vent de l'ouest"). Casadesus ist der radikale Antipode des impressionistischen Farbenzauberers Gieseking, dessen Sicht den "internationalen" Stil begründete. Seine Dominanz macht es uns schwer, Casadesus Vision auch nur zu akzeptieren.
Der gleiche herbe, reservierte Tonfall, der uns bei Debussy befremdet haben könnte, geht uns bei Casadesus' Ravel (5033892) unmittelbar ein - gibt es einen besseren Beweis für die Wesensverschiedenheit der beiden Komponisten? Ravel malt nicht, er zeichnet. Regelmaß verspielter Mechanik organisiert seinen ausgehärteten Satz, und in Casadesus' mal kernig zupackender, mal zart-exakter Lesart reichen sich Ravels Patrone Couperin und Liszt die Hand. Niemand türmte die "Toccata" kraftvoller, ja bedrohlicher auf, ohne die Fragilheiten am Wege zu überhören. Auch hier ist ein Klavierklang zu bestaunen, der eigenartig reich in seiner scheinbar kühlen Beengung und persönlich im Reservierten ist - jedenfalls Welten entfernt vom modernen Einheitston.
Und Chopin? (5033922) Es ist auffallend, dass die französische Schule wenige Chopin-Interpreten von Rang hervorgebracht hat, sieht man vom proteushaften Cortot ab. Wehmut und Heroismus Chopins zu inszenieren, freilich auch übersteigernd zu verzerren, das ist von jeher das Privileg der slawischen Spieler gewesen. Casadesus' innerer Welt mag die große Region des Nächtlichen, des Schwärmerischen und des Unheimlichen gefehlt haben - oder er hatte zeitlebens Furcht, ihn zu betreten, wir wissen das nicht.
Vielleicht darum aber geraten die Balladen seltsam prosaisch, scheinen die manuellen Unschärfen (Nr. 4) und der zuweilen etwas brachiale Zugriff (Nr. 1) Symptome, dass er Chopins unheimlichen Ausflügen in die Abgründe nicht vorbehaltlos folgen mochte. Auf der Tagseite entgeht ihm aber nichts. Der Kopfsatz der h-Moll-Sonate, 1964 eingespielt, gleicht einem Exorzismus des Kränkelnd-Poetischen. Ich kenne kaum eine kristallinere, dem Konstruktiven hinter den unendlichen Kantilenen sorgfältiger nachspürende Version.
Warum fasziniert uns solch nüchterne Beschau der Architektur? Vermutlich, weil Casadesus auch auf jene Gedanken, die seinem Herzen fern stehen - es sind nicht wenige - den ruhigen Blick des professionellen Komponisten wirft, der wissen will, wie sein "Kollege" es denn gemacht hat. Sieben Sinfonien und fünf Klavierkonzerte hat er geschaffen, und wer diese Zeilen gelesen hat, wird ahnen, wie seine Musik klingt, der immerhin eine Folge der Edition gewidmet ist (5054852). Esprit und Handwerkersinn halten bedrohliche Affekte ab, aber auch die emotionale Pose. Das geistvolle Spiel eines Rationalisten.

Matthias Kornemann, 01.09.2007


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