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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Ludwig van Beethoven, Robert Schumann

Sonate op. 109, Eroica-Variationen, Klavierkonzert

Annie Fischer, Joseph Keilberth, WDR Sinfonieorchester Köln

ICA/Naxos ICAC 5062

Welche Wege nehmen eigentlich die vielen, unablässig in die Kataloge wandernden Wiederveröffentlichungen? Wie finden sie ihre Hörer? Gibt es überhaupt so viele Sammler wie neue Titel? Natürlich gibt es die kleine verschlossene Welt der Pianophilen, denen es gelingt, noch die entlegenste Erscheinung eines ihrer Lieblinge aufzuspüren. Doch weil kaum mehr ein Magazin den Raum öffnet, diese Schätze aus den Archiven zu würdigen, fehlt dem nicht ganz so spezialisierten Hörer schlichtweg die Möglichkeit, an die Orte entlegener Wunder zu gelangen.
Auch wenn ich eigentlich selbst nicht so gerne lange Texte im Netz lese, möchte ich von Zeit zu Zeit gesammelt vorstellen, was mir gefallen hat auf meinen Suchfahrten durch die Kataloge. Drei große Klavierdamen sollen heute den Vortritt haben.
Annie Fischer (1914-1995) war immer eine Art priesterliche Ekstatikerin, deren Kunst uns kein genießendes Zurücklehnen gestattet; es ging ihr um das fast qualvolle Erleiden nachgestalteter Prozesse. Ihre erst posthum veröffentlichte Beethoven-Gesamtaufnahme ist davon gezeichnet, und auch dieser live-Mitschnitt der Sonate op. 109 schärft die Konturen ihres Künstlerbildes. In dem Trillergleißen am Ende werden wir keine Zeugen spiritueller Entrückung des Liedthemas, eher seiner verstörenden Verwandlung in etwas klanglich nicht mehr Realisierbares. Die Lebensspannung eines Menschen, der in seiner Kunst immer etwas Unerfüllbares, über sich Hinausweisendes erblickt, zieht uns auch durch das nervös vorangetriebene Schumann-Konzert. Man hört das sozusagen auf der Sesselkante, selbst in den herrlich deklamierten windstillen Monologen.
Wies Annie Fischer in ihrem oft etwas ruppigen, ungefälligen Ton in eine gar nicht mehr hörbare, spirituelle Sphäre hinüber, von deren Vollkommenheit ihr Spiel nur eine Ahnung liefern konnte, schenkt uns Lili Kraus (1903-1986), ebenfalls in Ungarn geboren, ein ganz diesseitiges Klaviervergnügen. Für das Label „Les Discophiles françaises“ – eine leider rasch eingegangene Unternehmung höchsten Kunstgeschmacks, der wir auch die wichtigsten Aufnahmen Marcelle Meyers verdanken – spielte sie 1953 eine Sammlung von Bachschen Miniaturen ein, die einen wirklich süchtig machen kann. Wie es ihr gelingt, diese Klavierstundenstückchen in gewichtig ausformulierte, zwischen Süße und Ernst schwankende Charakterstücke zu verwandeln, grenzt an ein Wunder. Die Konzerte und Kammermusik von Mozart auf dieser Doppel-CD sind nicht minder beglückend. Ein „Warnhinweis“ noch: Die Aufmachung der CDs des Labels doremi ist wirklich unbeschreiblich trashig. Eine billige Anmutung tritt ja oft schleichend in unsere Wahrnehmung des Immateriellen hinüber, selbst wenn wir denken, über solchen Äußerlichkeiten zu stehen.
Und noch eine Grande Dame des Klaviers: Alicia de Larrocha. Ihre 1993 für RCA entstandene Aufnahme von Mompous Cançons i danses war lange aus den Katalogen verschwunden und nur sehr teuer antiquarisch zu haben. Newton beweist bei seinen Lizenzkäufen wieder einen erlesenen Geschmack. Larrocha, mit dem einsiedlerischen Magier von Barcelona befreundet, überführt die teilweise überaus berühmten, teilweise aber auch fast unbekannten Miniaturen in eine lebenserfüllte Sphäre, während der Komponist selbst sie in viel monochromeres, fahleres Licht stellte. Die warme Fülle und Differenziertheit des Klavierklangs der späten Larrocha erreicht hier einen Gipfel. Mompou würde ihr diese Umdeutung verziehen haben, so herrlich ist dieses Klavierspiel.
Unter Claudio Arraus Händen blieb das wahrlich abgespielte vierte Beethovenkonzert ein langes Pianistenleben jung und interessant. Die Fassungen mit Galiera (1955) und Haitink (1964) gehören zu den erfülltesten jemals aufgenommenen Versionen. Wie schön, dass jetzt ein WDR-Mitschnitt unter Christoph von Dohnanyi von 1959 erstveröffentlicht wurde, der so etwas wie das fehlende Kettenglied darstellt. Wer nur den grüblerisch knetenden Arrau kennt, begegnet einem eigentümlich gelösten Meister. Das vivace-Finale, nicht selten in etwas brachialer Munterkeit abgespult, haucht er in herrlich schillernden Pianissimi hin, immer an der Grenze lyrischer Verflüchtigung.
Svjatoslav Richters Spuren auf Tonträgern werden wohl noch Generationen beschäftigen. Nun gibt es eine Fülle von Aufnahmen, die wohl doch nur die besessenen Sammler haben möchten. Und es gibt jene, die auch dem weniger Spezialisierten eine Ahnung vermitteln, warum Richters Kunst bis heute diese Wirkung entfaltet.
Diese Version des dritten Beethoven-Konzerts, 1954 in Warschau mitgeschnitten, gab es bisher nur auf der LP, Saint-Saëns fünftes, „ägyptisches“ Klavierkonzert mit den Leningrader Philharmonikern meines Wissens noch gar nicht. Hier trifft man einen Richter, der das Geschehen mit unerhörter Vehemenz an sich reißt. Herrisch und brüsk übernimmt er die Kontrolle im Finale des c-Moll-Konzerts – noch die geringste Überleitungsfigur ist mit elektrischer Energie aufgeladen. Auch das oft etwas spitzfingrig abgeschnurrte Konzert des Franzosen wird in mitreißendem „powerplay“ zu männlich-großem Virtuosen-Stoff umgedeutet. Die bestechende Form Richters in diesen Jahren ließ jene Erwartungshysterie im Westen aufkochen, die sich dann bei der Amerikatournee 1960 entlud.
In den späten Sechzigern durchlebte Richter eine Metamorphose, aus der er als asketischer Priester der Langsamkeit hervortrat, ohne doch die bohrende Intensität seiner Kunst eingebüßt zu haben. Berühmt ist seine Salzburger Einspielung des kompletten „Wohltemperierten Klaviers“ (1970 begonnen). Nur ein halbes Jahr zuvor unternahm er im Moskauer Konservatorium einen Testlauf, der ziemlich unbekannt geblieben ist (erst zum zweiten Mal überhaupt gelangt er auf einen Tonträger).
Der Richtersche Bach dieser Jahre reagierte sicherlich noch auf die individuelle und von spätromantischen Zügen überhauchte Sicht der Generation Edwin Fischers oder Samuil Feinbergs. Richter nahm eine radikale Haltung der Distanzierung ein; er steckt einen Raum von geradezu calvinistischer Kahlheit ab, in dem er grübelt oder motorisch rast, ohne seine strenge Erkundung durch irgendwelche Gefälligkeit zu dämpfen. Die eigenartig nachhallende Akustik des Schlosses Kleßheim bei Salzburg, wo Richter seine Studiofassung einspielte, legte eigenartigerweise wieder einen tröstlich mildernden Nebelschleier über dieses sachliche und zugleich beispiellos intensive Panorama. Dieser Zwilling aus dem Moskauer Konzert scheint in seinem dürreren Klangbild sein Ideal noch ungetrübter abzubilden.
Eine ziemlich sperrige Gestalt, nur einigen Klavierkennern noch ein Begriff, macht es dem Flaneur durch die Aufnahmegeschichte nicht ganz leicht. Bruce Hungerford (1922-1977) ist ein Unikum unter den Pianisten. Mit gleicher Leidenschaft und Seriosität widmete sich der Australier nämlich neben dem Klavier noch der Ägyptologie und der Fotografie. Beethoven war seine Sonne. Alle „32“ wollte er einspielen, sein tragischer Tod bei einem Verkehrsunfall 1977 ließ einen Torso von immerhin 22 Sonaten zurück, der erstmals vollständig auf der CD zu haben ist. Ich gebe zu, ich habe damit meine Schwierigkeiten. Man hört jedem Takt an, bis zu welcher Tiefe er sich diesen Kosmos erschlossen hat. Und jeder Takt wird dann auch so gnadenlos in härtestes Licht getaucht, dass die Schärfe der Kontraste fast wehtut. Dem Kopfsatz der „Mondscheinsonate“ bekommt das nicht gerade gut, den Rezitativen des „Sturm“ auch nicht. Doch die Waldsteinsonate etwa, ganz und gar vehementer Bewegtheit hingegeben, lässt ahnen, wie Hungerford zu seinem legendären Rang unter den Vinyl-Sammlern gekommen ist. Hier gerät die Sachlichkeit in einen eigentümlichen Furor. In anderen schnellen Sätzen ist es ähnlich. So schließt sich ein Kreis. Wie bei Fischer wird man auf eine anstrengende Wahrheitssuche mitgenommen. Es geht nicht ums Vergnügen, sondern um die letzten Dinge.

Matthias Kornemann, 30.06.2012


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