ACT/Edel 0094962ACT
(59 Min., 5/2009 & 2/2010)
Man darf das beruhigende, wohlig-mystische Gefühl, das uns beim Betrachten von Überbleibseln einer fernen Vergangenheit beschleicht, nicht mit dem Lebensgefühl dieser Vergangenheit verwechseln. Genießen und feiern kann man dieses Gefühl trotzdem. So etwa, wie der Jazzsaxofonist Kurt Rössler und der Lautenist und Gitarrist Johannes Vogt, die sich vom berühmten Oktogon des Castel del Monte des Stauferkaisers Friedrich II. in Apulien zu einer imaginären Zeitreise haben inspirieren lassen. Auf historische Genauigkeit kommt es den beiden Musikern nicht an: Ihr Bild vom toleranten, islamfreundlichen Kaiser ist eine moderne Projektion und die Bezüge, die sie vom verwendeten musikalischen Material (u. a. von Hildegard von Bingen) zu Friedrich II. herstellen, sind teilweise recht weit hergeholt. Und trotzdem passt hier zusammen, was zeitlich nicht zusammengehört: Weitaus besser als historisch korrekte Instrumente kann Vogts Barocklaute die Balance zu Rösslers morbiden Saxofonklängen und synthetischen Gitarrenbegleitungen aufbauen. Lediglich der Gesang von Ute Kreidler bekommt durch die elektronische Nachbearbeitung bisweilen einen winzigen künstlichen Beigeschmack. Basis der Fantasiereisen ist ein sanfter, meditativer Jazz mit einer Messerspitze Pop. Das Resultat wirkt weniger kitschig als Jan Garbareks "Officium" und hebt sich auch von anderen Crossover-Projekten positiv ab. Der Grund ist vor allem die Ökonomie, mit der sowohl die verwendeten christlichen und arabischen Weisen des Mittelalters als auch das selbst erfundene achttönige Octagon-Motiv behandelt und in Imitationen, Kontrastbildungen und geschickt zwischen archaischen und modernen Assoziationen balancierten Harmonisierungen auf ihre Substanz zurückgeführt werden. Wer wie die Interpreten den Mut hat, sich zwischen den Zeiten schwebend von seinem historischen Wissen zu lösen, darf getrost die Flügel ausbreiten.
Carsten Niemann, 23.10.2010
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